Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Gesang der Lerchen - Otto Sindram

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hatte vergessen, die wöchentliche Tabakration zu besorgen. Der Vater, über den Umweg Kneipe von der Arbeit kommend, tobte, weil er nichts zu rauchen vorfand. »Ein Päckchen Tabak in der Woche, mehr verlange ich ja nicht; aber nein, auch das ist schon zu viel! Soll ich denn nur noch malochen gehen und sonst nichts mehr vom Leben haben? Da kann ich ja gleich verrecken!«

      Die Mutter schwieg und stellte ihm das Essen auf den Tisch. Der Vater nahm den mit Suppe gefüllten Teller und warf ihn auf den Boden. Der Teller zersprang, die Suppe verteilte sich in der Wohnküche. Der Vater sprang herum, stampfte mit den Füßen auf das Durcheinander von Suppe und Scherben, schimpfte weiter und bedrohte die Mutter. Da stand Philipp auf, umklammerte seinen Vater mit beiden Armen, hob ihn hoch, trug ihn zum Stuhl, setzte ihn heftig ab, nahm einen neuen Teller aus dem Schrank, füllte ihn mit Suppe, setzte den vollen Teller vor den Vater auf den Tisch und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ: »Jetzt isst du und rührst dich nicht eher vom Fleck, bis du aufgegessen hast!«

      Wie leicht er doch ist, dachte Philipp und merkte sofort, dass er als Kind manchmal vom Vater mit genau den gleichen Worten zum Essen gezwungen worden war. Der Vater saß einen Moment wie versteinert, nahm dann aber den Löffel und aß.

      Die Mutter weinte, beseitigte die Scherben und die Essensreste vom Boden, wischte sich mit den Händen die Tränen ab und dabei Suppe ins Gesicht.

      Philipp schaute den beiden zu, und ein seltsames Gefühl nahm von ihm Besitz. Er konnte es nicht deuten, wusste aber, dass es weder Triumph noch Wut war.

      Die Wohnküche war voll mit Menschen, es waren die Tanten und Frauen aus der Nachbarschaft. Sie tranken Kaffee und aßen Streuselkuchen. Onkel Hännes war der einzige Mann im Raum. Vor ihm stand eine Schnapsflasche und ein leeres Glas.

      »Da kommt ja unser Studierter«, begrüßte er Philipp. »Komm her, iss Kuchen! Bei den Russen kriegst du ja doch nicht genug zu essen.«

      Philipp begrüßte alle und setzte sich zur Großmutter. Die Mutter schenkte ihm Kaffee ein und stellte den Kuchenteller näher zu ihm hin.

      »Wo ist Opa?«, fragte Philipp.

      »In der Schusterkammer, der kriegt hier keine Luft«, antwortete die Großmutter.

      Eine Nachbarin wollte wissen, ob Philipp denn keine Angst habe vor den Russen, man wisse doch, und so stände es ja auch in den Zeitungen, wie schrecklich diese Menschen seien. Sie würden Uhren stehlen und die Frauen vergewaltigen. Philipp wurde ärgerlich.

      »Ich habe mehr Angst vor den Deutschen, sie vertreiben oder vergasen die Menschen.«

      Hännes sprang auf.

      »Ein Russe! Ein Russe! Du redest schon genau wie die Polit-Kommissare. Alles müsst ihr verdrehen. Seht ihn euch an! Halb verhungert ist er schon. Sie haben nichts zu essen, aber dafür haben sie ihren Stalin und ihre Dialektik, so nennen sie das, wenn sie einem einreden wollen, dass Hungern und Gefängnisse gut sind für den Sieg des Kommunismus.«

      »Kinder, seid ruhig, vertragt euch, nebenan liegt Paul«, versuchte Oma Josepha zu schlichten und zog Hännes wieder auf seinen Platz zurück.

      Philipp fiel ein, dass er in der Schultasche noch gut die Hälfte der Dauerwurst hatte. Er holte die Wurst, schnitt dicke Scheiben davon ab und verteilte diese.

      »Probiert mal! Wurst aus Ostdeutschland. Ich habe sie auf der Reise nicht ganz geschafft.«

      Die Frauen kosteten schmatzend die Wurst und lobten ihre gute Qualität, Onkel Hännes weigerte sich zu probieren.

      »Aber in der Zeitung stand, bei euch gibt es immer noch Lebensmittelkarten«, bemerkte eine Nachbarin.

      »Das stimmt«, erwiderte Philipp, »aber es gibt schon viel ohne Marken zu kaufen. Wir haben Läden, dort kann man von der Schokolade bis zum Kaviar alles bekommen, natürlich ein bisschen teurer.«

      »Das finde ich richtig«, sagte eine andere Nachbarin und langte nach einem neuen Stück Streuselkuchen. »Wer Kaviar essen will, der soll auch dafür bezahlen. Ich selber mag gar keinen Kaviar.«

      »Hast du schon mal welchen probiert?«, fragte Hännes und schüttete sich den nächsten Schnaps ein.

      »Nee, woher denn«, gab die Nachbarin kauend zu.

      »Dann red auch nicht so daher«, sagte Hännes und trank das Glas in einem Zug leer.

      Philipp übernachtete auf dem Sofa in der Wohnküche und schlief lange nicht ein. Er musste an den Vater denken, der nebenan im Sarg lag.

      Am nächsten Morgen war es trübe und regnerisch. Zuerst kamen Heinkes und sein ältester Sohn ins Haus, um mit Lisa noch einmal alles zu besprechen. Heinkes trug einen Zylinder auf dem Kopf. Als er Philipp sah, unterbrach er die Besprechung, setzte kurz sein Trauergesicht auf und drückte ihm stumm die Hand. Dann wurde er wieder geschäftig.

      »Na, Junge, haben wir den Vater nicht gut hingekriegt? Das war gar nicht so einfach; der Stein muss ein Riesenbrocken gewesen sein. Der Vater war ganz eingedrückt. Aber der Heinkes macht das schon.«

      Nach und nach traf die Verwandtschaft ein und füllte das Haus. Alle traten noch einmal an den offenen Sarg und nahmen Abschied von Paul. Dann kam die Kutsche.

      »Für die Fußkranken«, sagte Heinkes. »Bis zum evangelischen Friedhof ist es doch ein ganz schönes Stück Weg.«

      Josepha war mit ihrem Versuch, für Paul eine katholische Totenmesse und eine Beerdigung auf dem katholischen Friedhof zu bekommen, an der Weigerung des Pfarrers gescheitert.

      Ferdinand saß schon in der Kutsche. Als Josepha ihn bat auszusteigen und noch einen Moment ins Haus zu kommen, weigerte er sich. Auf der Straße vor dem Haus sammelten sich die Nachbarn. Die Männer trugen Zylinder, viele Frauen hatten schwarze Hüte mit Gesichtsschleiern aufgesetzt.

      Die Musiker vom Knappenverein in ihren schwarzen Uniformen mit den großen Messingknöpfen versammelten sich auf dem Hof und stellten ihre Blasinstrumente neben sich auf den Boden.

      Zuletzt kam der Leichenwagen, gezogen von zwei mit schwarzen Tüchern bedeckten Pferden. Die Pferde trugen schwarze Masken und zwischen den Ohren schwarze Federbüsche. Durch die Glasscheiben des Leichenwagens sah man im Innern auf allen Seiten blütenweiße Spitzengardinen.

      Sechs Knappen mit schwarzen Federbüschen an den Hüten und weißen Handschuhen kamen ins Haus. Josepha bat sie noch einen Moment zu warten, holte eine mit Weihwasser gefüllte Weinflasche und besprenkelte die Leiche und den Sarg. Die Knappen schlossen den Sarg, trugen ihn auf die Straße und schoben ihn in den Leichenwagen. Dann holten sie die Kränze, von denen sie einige außen an die Seitenlaternen des Wagens hängten, andere in den Wagen neben den Sarg legten. Zuletzt stellten sie einen großen Kranz mit langen weißen Schleifen hinter den Sarg und schlossen den Leichenwagen. Der große Kranz war durch die Scheiben für alle sichtbar. Die Schleifen waren so geordnet, dass man die Beschriftung gut lesen konnte: Ein letzter Gruß von Deiner Dich liebenden Frau und von Deinem Sohn.

      Philipp führte Jacob zu der Kutsche, in der gegenüber Ferdinand schon zwei dicke Frauen aus der Nachbarschaft Platz genommen hatten. Die Knappenkapelle formierte sich, setzte sich auf ein Zeichen von Heinkes’ Sohn in Bewegung und spielte einen Trauermarsch. Ihr folgte der Leichenwagen, begleitet von drei Trägern auf jeder Seite. Dahinter Lisa, Josepha und Philipp, der in der Mitte ging und den beiden Frauen den Arm reichte. Ihnen folgte die Familie, dann kamen die

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