Equinox. Dana Schwarz-Haderek
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Hatte er nicht gesagt, er wäre abends häufig dort?
Er wohnte in der Nähe?
Hoffnung durchflutete mich.
Ich müsste nur wieder den Abend auf einer der Bänke unter den Bäumen verbringen.
Aber nein, alle Hoffnung schwand sofort wieder, als ich daran dachte, wie ich wohl auf ihn gewirkt haben musste. Er würde sich sicher einen neuen Platz suchen. Wer will schon so einen Stockfisch wie mich wiedertreffen? Trostlosigkeit erfüllte mich mit einer nie gekannten Intensität.
Ich war noch nie ein besonders extrovertierter Mensch gewesen, sondern betrachtete die Welt eher aus dem Hintergrund und drängte mich nie nach vorn. Aber es hatte mir auch noch nie die Stimme einfach so verschlagen. Der Gedanke an meine Unfähigkeit zu sprechen, verärgerte mich zunehmend.
Ich grübelte weiter, bis draußen der Tag anbrach, und beschloss, in einem Anflug von Vernunft, lieber in aller Frühe aufzustehen, statt mir weiter über einen völlig Fremden den Kopf zu zerbrechen, den ich aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nie wieder sehen würde.
Ich nutzte die frühe Stunde und ging im Morgengrauen im nah gelegenen Rosental eine halbe Stunde laufen, hoffend, in der kühlen, herbstlich-feuchten Luft wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Später, unter der heißen Dusche stehend, ertappte ich mich, dass ich immer noch an den schönen Fremden dachte. Entnervt stellte ich das Wasser ab und fröstelte augenblicklich. Ich musste vergessen haben, das Fenster vor dem Duschen zu schließen. Denn zum Duschen bei geöffnetem Fenster war es nun wirklich zu kühl. Das Wetter war über Nacht umgeschlagen, und noch während ich aus der Dusche schlüpfte und nach meinem Handtuch angelte, ging der leichte Morgennebel in einen garstig-grauen Nieselregen über. Unwirsch schloss ich das Fenster, als würde ich meine verwirrenden Gedanken ebenfalls einfach ausschließen können.
Es war Samstag, der neunundzwanzigste September. Am Montag würde mein Studium beginnen. Die Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung ließ die Gedanken an Robert, den Unbekannten, kurzzeitig verblassen. Ich schlüpfte in Jeans, T-Shirt und eine dicke Strickjacke und überlegte bei einer Tasse English Breakfast Tea, einem morgendlichen Ritual, das ich als Mitbringsel meiner Zeit als Fremdsprachenassistentin an einer britischen Grundschule im Südwesten Englands in mein hiesiges Leben importiert hatte, wie ich den Tag am besten verbringen könnte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass der Tag sich nicht beeilte, fortzuschreiten. Es war halb sieben und regnete, weder die richtige Zeit noch das richtige Wetter für große stadterobernde Pläne. Also leerte ich meine letzten beiden Umzugskartons. Ab und zu sah ich kurz aus dem Fenster, aber das kleine grüne Oval, das ich im äußersten Winkel sehen konnte, war und blieb menschenleer. Allmählich kam es mir vor, als wäre der vergangene Abend nur einer der flüchtigen Träume meiner unruhigen Nacht gewesen, und es fiel mir schon leichter, die Gedanken daran zu verdrängen. Mittlerweile müsste es doch mindestens acht Uhr sein.
Sieben Uhr vierzig zeigte mein kleiner Wecker. Die Zeit kroch tatsächlich im Schneckentempo. Ich beschloss, dem Wetter die Stirn zu bieten, schlüpfte in meinen halbwegs regenfesten Parka und ein paar alte Turnschuhe, schnappte mir ein Buch aus dem Regal und zog die Tür hinter mir ins Schloss. Ich nahm mir vor, die erstbeste Straßenbahn zu nehmen, die kam und im Stadtzentrum in einem Coffeeshop gemütlich zu lesen. Ich fand schnell, was ich suchte. In der Nähe des Hauptbahnhofes, am Brühl gab es eine Filiale von »Tim’s Coffeehouse«, meiner Lieblingscafékette. Das ist das einzig Schöne am sonst für mich eher langweiligen Franchisekonzept, man findet überall auf der Welt die gleiche vertraute Atmosphäre. In Exeter, meiner Stadt auf Zeit in England genauso wie hier in Leipzig. Ich bestellte einen großen Chai Tea Latte, machte es mir auf einem der ausladenden Ledersofas im hinteren, gemütlich dunklen Bereich des Cafés bequem und ließ den Blick wandern. Es waren außer mir erst zwei weitere Gäste anwesend, die beide einen großen Koffer und Rücksäcke dabei hatten. Sie saßen sich schweigend gegenüber und hielten sich ziemlich müde aussehend an ihren übergroßen Milchkaffeetassen fest. Wahrscheinlich waren sie die ganze Nacht unterwegs und warteten nun auf ihren Anschlusszug. Zum Bahnhof waren es ja nur wenige Schritte.
»Tim’s Coffeehouse« war der Inbegriff von Gemütlichkeit. Eine heimelige Insel inmitten hektischer Städte. Wahrscheinlich mochte ich diesen Platz deshalb so sehr. Ich fühlte mich hier immer ein wenig zu Hause und konnte das schnelle Stadtleben für die Länge einer Tasse Tee einfach ausblenden. Die Wände waren abwechselnd in verschieden breiten Streifen abgedunkelter und pastelliger Farben gestrichen, weinrot, royalblau, zartgelb, waldgrün, rosenholz, verschiedene Braun- und Grautöne. Auf alt getrimmte Emaillekaffee- und Teewerbeschilder aus aller Welt schmückten die bunten Farbstreifen und auf einem im Laden ringsum laufenden Regal knapp unter der mit Stuck reichhaltig verzierten Decke standen Tee- und Kaffeeblechdosen, Kannen, Tassen und Becher. Große bodentiefe Fenster mit alter Buntverglasung, warfen trotz des miesen Wetters draußen ein warmes Licht in den Raum. Ob der Stuck und die Fenster wohl noch Originale aus der Jugendstilzeit waren? Vielleicht, denn solche Kleinode ließen sich in Leipzig noch häufig finden und wirkten auf mich besonders anziehend. Ich nippte an meinem Chai Latte und packte mit einem leisen Seufzer des Wohlbefindens mein Buch aus. »Dreh Dich nicht um« von Daphne du Maurier. Ich liebte die Bücher dieser Schriftstellerin, denn sie erinnerten mich an die schöne Zeit, die ich von September letzten Jahres bis Mai dieses Jahres in Südwestengland verbracht hatte. Ich begann mit der ersten Novelle »Die Vögel« und versank in der faszinierenden Mischung aus subtilem Horror und Hoffnung. Versunken lesend, klopfte mein Herz im Takt der atemlosen Geschichte.
»Hallo Bücherwurm. Da bist Du ja wieder. Darf ich?«
Mein Buch fiel mir fast aus den Händen, als mich eine Stimme ansprach, die mir paradoxerweise unendlich vertraut erschien, obwohl ich sie erst wenige Stunden kannte.
Unglaublich, da war er.
Mir gelang es nicht, das Erstaunen in meinem Gesicht auch nur andeutungsweise zu verbergen. Leicht verwuscheltes, regenfeuchtes Haar, als hätte er vergessen, sich zu kämmen. Bluejeans, ein dunkelblau-petrolgrün kariertes Hemd darüber, bis zur Brust aufgeknöpft, darunter ein einfaches graues V-T-Shirt. Die Hemdsärmel lässig hochgekrempelt. Über dem Arm eine alte schwarze Bikerlederjacke. Letzte Regentropfen in seinem Gesicht, die das warme, abgedunkelte Licht der Cafébeleuchtung in warmen Sonnenfarben brachen und ihn leicht funkeln ließen.
Ich konnte meinen Blick wieder nicht von ihm abwenden.
Er lächelte fragend.
Ich deutete auf den Sessel neben mir und ärgerte mich gleichzeitig, dass ich den Rest der Couch neben mir einnehmend mit meiner Jacke okkupiert hatte.
»Hallo. Ja, bitte.« Immerhin, ich konnte heute Morgen wenigstens sprechen. Das lag wohl an der absolut unerwarteten Überraschung. Meine wie eingefrorene Starre würde bestimmt gleich wieder eintreten, fürchtete ich, denn da waren sie erneut, diese unergründlich grünen Augen, die mich warm und wieder ein klein wenig belustigt anblickten. Ich versuchte mich so stark wie möglich darauf zu konzentrieren, einen halbwegs geistesanwesenden Eindruck zu erwecken und nicht wieder in den Tiefen seiner Augen einfach nur hilflos durch Raum und Zeit zu treiben.
»Ich hätte ja nicht erwartet, überhaupt schon jemanden bei diesem Wetter und um diese Zeit hier an einem Samstagmorgen anzutreffen. Und plötzlich bist du da. Weißt du, ich mag es, hier noch vor allen anderen einen Kaffee zu trinken, in der Zeitung zu blättern und langsam ins Wochenende zu starten.« Er schaute mich aufmunternd an, als wollte er tatsächlich mit mir ins Gespräch kommen.
In der Zeitung blättern. Um diese Zeit? Wie spät war es eigentlich? Erst acht Uhr vierunddreißig? Mir gegenüber hing eine große weiße bahnhofsähnliche Uhr mit antik wirkenden Metallzeigern, die leise vor sich hin tickten. Irgendetwas stimmte heute mit meinem Zeitempfinden nicht. Ich hätte