Rasse, Klasse, Nation. Immanuel Wallerstein
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Hiermit können wir zur Frage des »Neo-Rassismus« zurückkehren. Wie ich bereits gesagt habe, liegt die Schwierigkeit nicht so sehr darin, die Tatsache das Rassismus zu erkennen – hierfür bietet die Praxis ein hinreichend sicheres Kriterium, jedenfalls wenn wir uns nicht von den Verleugnungen ablenken lassen wollen, die die Praxis des Rassismus insbesondere von Seiten eines großen Teils der »politischen Klasse« erfährt, die damit nur ihr geheimes Einverständnis oder ihre interessierte Blindheit zum Ausdruck bringt. Die Frage ist vielmehr, wie wir erkennen können, in welchem Maße eine relativ neue Sprache als Ausdruck einer neuen Artikulation zu begreifen ist, in der sich in einer auf Dauer angelegten Weise gesellschaftliche Praxis und kollektive Vorstellungen, Lehren von Wissenschaftlern und politische Bewegungen miteinander verbinden. Kurzum, um mit Gramsci zu sprechen, die entscheidende Frage liegt darin, zu erkennen, ob sich hier so etwas wie ein Hegemonie-Verhältnis abzeichnet.
Die Art und Weise, wie die Kategorie der Immigration als Ersatz für den Begriff der Rasse und damit als Agens einer Zersetzung des »Klassenbewusstseins« funktioniert, liefert uns hierfür einen ersten Hinweis. Ganz offensichtlich haben wir es hier nicht einfach mit einer Tarnungsoperation zu tun, die aufgrund des mehr als schlechten Rufs des Ausdrucks »Rasse« und seiner Ableitungen nötig geworden wäre; und es handelt sich auch nicht ausschließlich um eine Auswirkung der Strukturveränderungen, die sich innerhalb der französischen Gesellschaft vollzogen haben. Schon seit langem sind die kollektiven Zusammenhänge der Arbeitsimmigranten Diskriminierungen und fremdenfeindlichen Gewalttätigkeiten ausgesetzt, die ihrerseits von den Stereotypen des Rassismus durchdrungen sind. Bereits in der Zwischenkriegszeit, also in einer früheren Krisenperiode, konnte man erleben, wie Kampagnen gegen die »Mischlinge« (seien sie nun Juden gewesen oder nicht) entfesselt wurden, die über den Rahmen der faschistischen Bewegungen hinaus wirksam waren und deren logische Vollendung dann der Beitrag des Vichy-Regimes zum Hitler’schen Vernichtungsunternehmen gewesen ist. Warum hat man damals nicht den »biologischen« Signifikanten durch den »soziologischen« ersetzt und ihn zum ideologischen Schlussstein der Darstellungsformen des Hasses auf den Anderen und der Furcht vor ihm gemacht? Neben dem unbestreitbaren Gewicht der spezifisch französischen Tradition des anthropologischen Mythos ist ein Grund wahrscheinlich der institutionelle und ideologische Bruch, der damals noch zwischen der Wahrnehmung der (im wesentlichen aus Europa kommenden) Einwanderung und den Erfahrungen des Kolonialismus bestand (einerseits wird Frankreich »erobert«, andererseits »herrscht« es). Der Andere ist das Fehlen eines neuen weltweiten Modells der Artikulation von Staaten, Völkern und Kulturen.3 Diese beiden Gründe hängen im Übrigen zusammen. Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der »Entkolonialisierung«, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten »Mutterländern« umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines »Rassismus ohne Rassen«, wie er sich außerhalb Frankreichs, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon recht weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf »beschränkt«, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differenzialistischer Rassismus bezeichnet worden (vgl. etwa P. A. Taguieff4).
Um die Bedeutung dieser Argumentation hervortreten zu lassen, sind die politischen Konsequenzen festzuhalten, die sich aus dieser Veränderung ergeben. Die erste ist eine Erschütterung der Abwehrmechanismen des traditionellen Antirassismus und zwar durch Umstülpung seiner eigenen Argumentation; sie wird gegen ihn selbst gewendet (was Taguieff sehr treffend als Retorsionseffekt des differentiellen Rassismus bezeichnet hat). Der Umstand, dass die Rassen keine isolierbaren biologischen Einheiten darstellen, dass es in der Tat keine »menschlichen Rassen« gibt, wird hier sofort zugegeben. Auch die Tatsache, dass sich das Verhalten der Individuen und deren »Eignung« nicht aus dem Blut und nicht einmal aus den Genen erklären lässt, sondern allein aus ihrer Zugehörigkeit zu historischen »Kulturen«, kann hier ebenfalls zugegeben werden. Nun hatte der anthropologische Kulturalismus aufgrund seiner ausschließlichen Orientierung auf die Anerkennung der Unterschiedlichkeit und Gleichwertigkeit der Kulturen – deren polyphone Gesamtheit allein die menschliche Zivilisation konstituiert – dem humanistischen und kosmopolitischen Antirassismus der Nachkriegszeit den größten Teil seiner Argumente geliefert. Der Wert dieses Kulturalismus bestätigte sich darüber hinaus noch durch den Beitrag, den er zum Kampf gegen bestimmte, auf Uniformierung hinwirkende Formen des Imperialismus und zum Widerstand gegen die Ausschaltung von Minderheitskulturen oder auch beherrschten Kulturen, also gegen den »Ethnozid« leistete.
Der differenzialistische Rassismus nimmt nun diese Argumentation ganz und gar wörtlich. Ein bekannter Anthropologe, berühmt geworden durch den Nachweis, dass alle Kulturen gleichermaßen komplex und gleichermaßen für das Fortschreiten des menschlichen Denkens erforderlich sind (Claude Levi-Strauss), findet sich jetzt – ganz gleich ob freiwillig oder unfreiwillig – in den Dienst des Gedankens gestellt, »Kulturvermischungen«, die Beseitigung »kultureller Distanzen« entsprächen dem geistigen Tod der Menschheit und gefährdeten vielleicht sogar die Regulierungsmechanismen, von denen das biologische Überleben der Menschheit abhängt.5 Und diese »Beweisführung« wird dann auch noch ganz unvermittelt mit der »spontanen« Tendenz aller menschlichen Gruppen (womit in der Praxis Nationen gemeint sind, auch wenn ganz offenbar die anthropologische Bedeutung der politischen Kategorie der Nation ganz offensichtlich einigermaßen zweifelhaft ist) in Beziehung gebracht, ihre Traditionen, und damit ihre Identität, zu bewahren. Hier kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass ein biologischer oder genetischer »Naturalismus« keineswegs den einzigen möglichen Modus einer Naturalisierung menschlicher Verhaltensweisen und Gesellschaftlichkeit darstellt. Wenn sie dafür das – ohnehin stärker dem bloßen Anschein verhaftete als reale – Modell einer Hierarchie (von Natur und Kultur, A. d. Ü.) aufgibt, kann auch die Kultur durchaus als eine solche Natur fungieren, ganz besonders als eine Art und Weise, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine, Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unberührbares Bestimmtsein durch den Ursprung.
Aber dieser erste Umstülpungseffekt zieht unmittelbar einen zweiten nach sich: Wenn die irreduzible kulturelle Differenz die wahrhafte »natürliche Umwelt« des Menschen bildet, gleichsam die Atmosphäre, ohne die sein historischer Atem nicht möglich wäre, dann muss jede Verwischung dieser Differenz notwendig Abwehrreaktionen auslösen, zu »interethnischen« Konflikten und generell zu einem Anstieg der Aggressivität führen. Dabei handelt es sich, wie man uns erklärt, um »natürliche« Reaktionen, die aber zugleich gefährlich sind. In einer staunenswürdigen Kehrtwendung bieten sich uns derart die differenzialistischen Lehren für die Aufgabe an, den Rassismus zu erklären (und ihm präventiv zu begegnen).
Tatsächlich vollzieht sich eine ganz allgemeine Verlagerung der Problematik. Von der Theorie der Rassen bzw. des Kampfes der Rassen in der Menschheitsgeschichte – ganz gleich, ob diese auf biologische oder auf psychologische Grundlagen zurückgeführt wurden – wird der Übergang zu einer Theorie der »ethnischen Beziehungen« (oder auch der »race relations«) innerhalb der Gesellschaft vollzogen, die nicht die rassische Zugehörigkeit, sondern das rassistische Verhalten zu einem natürlichen Faktor erklärt. Der differenzialistische Rassismus ist also, logisch betrachtet, ein Meta-Rassismus, bzw. ein Rassismus, den wir als »Rassismus zweiter Linie« kennzeichnen können, d. h. ein Rassismus der vorgibt, aus dem Konflikt zwischen Rassismus und Antirassismus seine Lehren gezogen zu haben, und sich selbst als eine politisch eingriffsfähige Theorie