Rasse, Klasse, Nation. Immanuel Wallerstein
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Wenn die kulturellen Unterschiede jeweils als getrennte Einheiten (bzw. als symbolische Strukturen) gedacht werden (also jeweils als »Kultur«)9, verweist uns das auf die kulturelle Ungleichheit im »europäischen« Raum selbst; oder, genauer, auf die »Kultur« als Bildung10 (als gelehrte oder populäre, technische oder volkstümliche Bildung), d. h. auf Strukturen der Ungleichheit, die sich in einer industrialisierten, verschulten und mehr und mehr internationalisierten, durch weltweite Einflüsse konstituierten Gesellschaft tendenziell reproduzieren. Die »unterschiedliche« Kulturen sind also die Hindernisse für den Erwerb der Kultur, bzw. sie werden institutionell (durch die Schule oder durch die Normen der internationalen Verständigung) zu Hindernissen aufgebaut. Und umgekehrt erscheinen die »kulturellen Defizite« der beherrschten Klassen als praktische Seite ihrer Fremdheit bzw. als Lebensformen, die den zerstörerischen Auswirkungen der »Vermischung« in besonderem Maße ausgesetzt sind (d. h. den zerstörerischen Auswirkungen der materiellen Bedingungen, unter denen sich diese »Vermischung« vollzieht).11 Diese latente Gegenwart des Themas der Hierarchie ist nicht neu: In durchaus gleicher Weise musste der offen anti-egalitäre Rassismus der vorhergehenden Epoche, um die wesentliche Konstanz der rassischen Typen postulieren zu können, eine differenzialistische Anthropologie voraussetzen, ganz gleich ob diese nun genetisch oder auf Völkerpsychologie begründet wurde. Heute jedoch kommt das Thema vor allem in Gestalt des Vorranges des individualistischen Modells zum Ausdruck: als die implizit überlegenen Kulturen gelten diejenigen die die »individuelle« Initiative, den sozialen und politische Individualismus, besonders hoch bewerten und fördern, im Gegensatz zu denjenigen Kulturen, die ihn hemmen und einengen. Die überlegenen Kulturen wären demnach diejenigen, deren »Gemeinschaftsgeist« von nichts anderem als vom Individualismus gebildet würde.
Von daher lässt sich auch begreifen, woraus sich schließlich die Wiederkehr des Themas der Biologie legitimiert, die Ausarbeitung neuer Varianten des biologischen »Mythos« im Rahmen eines kulturellen Rassismus. Bekanntlich bestehen in dieser Hinsicht national ganz unterschiedliche Situationen. In den angelsächsischen Ländern, wo sie zugleich an die Traditionen des Sozial-Darwinismus und der Eugenik anknüpfen können und sich zugleich ganz unmittelbar mit den politischen Zielsetzungen eines kämpferischen Neoliberalismus kurzschließen können,12 verfügen die theoretischen Modelle der »Ethologie« und der »Soziobiologie« (die zum Teil zueinander in Konkurrenz stehen) über einen größeren Einfluss. Allerdings beruhen selbst noch diese eher biologistischen Ideologien auf dem, was die »differenzialistische Revolution« erbracht hat. Nicht etwa die Konstitution der Rassen bildet ihr Erklärungsziel, sondern die lebenswichtige Bedeutung, die die Abgeschlossenheit der Kulturen und der Traditionen für die Akkumulation der individuellen Fähigkeiten hat, sowie die »natürlichen« Grundlagen von Xenophobie und gesellschaftlicher Aggressivität. Die Aggressivität stellt ein fiktives Wesen dar, dessen Anrufung allen Formen des Neo-Rassismus gemeinsam ist und die es ermöglicht, den Biologismus ein Stück zu verschieben: zweifellos gibt es keine »Rassen«, es gibt nur Bevölkerungen und Kulturen, aber es gibt doch biologische (und biopsychische) Ursachen und Wirkungen der Kultur sowie biologische Reaktionen auf die kulturelle Differenz (die gleichsam so etwas wie eine unauslöschliche Spur der Animalität des immer noch an seine erweiterte »Familie« und an sein »Territorium« gebundenen Menschen bilden). Wo umgekehrt der »reine« Kulturalismus vorzuherrschen scheint (wie in Frankreich), kann man eine schleichende Verschiebung in Richtung auf Diskurse über Biologie beobachten: Diskurse über die Kultur als einer externen Regulierungsform des »Lebendigen«, über seine Reproduktion, seine Leistungen und seine Gesundheit werden ausgearbeitet. Es war unter anderem Michel Foucault, der dies vorausgeahnt hatte.13
Es kann durchaus sein, dass die gegenwärtigen Varianten des Neo-Rassismus nur eine ideologische Übergangsformation bilden, der es bestimmt ist, sich in Richtung auf soziale Diskurse und Techniken weiterzuentwickeln, in denen die Dimension der historischen Erzählung genealogischer Mythen (und damit das Spiel der Substitutionsverhältnisse von Rasse, Volk, Kultur und Nation) relativ zurücktritt gegenüber der Dimension psychologischer Bewertungen intellektueller Fähigkeiten und der »Disposition« zu einem »normalen« gesellschaftlichen Leben (oder umgekehrt zu Kriminalität und Abweichung) sowie zu einer (in gefühlsmäßiger ebenso wie in gesundheitlicher oder eugenischer usw. Hinsicht) »optimalen« Reproduktion. Diese Fähigkeiten und Dispositionen würden dann von einer ganzen Armee sich dafür anbietender kognitiver, sozialpsychologischer oder auch statistischer Wissenschaften gemessen, selektiert und kontrolliert, indem die jeweiligen Anteile von Vererbung und Umwelt richtig dosiert würden …
Eine solche Entwicklung ginge in Richtung auf einen »Post-Rassismus«. Und zwar meiner Überzeugung nach um so mehr, je mehr die sozialen Beziehungen sich zu Beziehungen auf globaler Stufenleiter entwickeln und die Ortsveränderungen ganzer Bevölkerungsgruppen im Rahmen eines Systems von Nationalstaaten dazu führen werden, den Begriff der »Grenze« neu zu denken und seine Anwendungsweise auf die Funktion einer gesellschaftlichen Prophylaxe zu beschränken, die auf eine zunehmend individualisierte Ebene bezogen wird: Die technologischen Strukturveränderungen werden dazu führen, dass ungleiche Schulausbildungen und intellektuelle Hierarchien eine immer wichtigere Rolle im Klassenkampf spielen, in der Perspektive einer verallgemeinerten techno-politischen Selektion der Individuen. Vielleicht stehen wir erst vor einem wirklichen »Zeitalter der Massen« in einer Epoche von Unternehmer-Nationen.
Anmerkungen
1 Colette Guillaumin hat diesen m. E. grundlegenden Punkt klar herausgearbeitet: »Die Aktivität der Kategorienbildung ist auch eine Aktivität der Erkenntnisgewinnung […] Daher ergibt sich zweifellos die Ambiguität jedes Kampfes gegen die Stereotypen sowie die Überraschungen, die dieser Kampf für uns bereithält. Die Kategorisierung kann sowohl Erkenntnis als auch Unterdrückung gebären.« (L’Idéologie raciste. Genèse et langage actuel, Paris/La Haye, Mouton, 1972, S. 183f.)
2 L. Poliakov, Le Mythe arien, Calmann-Lévy, 1971 (dt. Ausg.: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien, Europaverlag, 1977); La Causalité diabolique, Calman-Lévy, 1980.
3 Vergleichen wir etwa die Art und Weise, wie in den USA das »Schwarzen-Problem« vom »ethnischen Problem«, das die sukzessiven Einwanderungswellen aus Europa und deren gesellschaftliche Aufnahme aufgeworfen hatte, getrennt geblieben ist, bis schließlich in den Jahren von 1950 bis 1960 ein neues »Ethnizitäts- Paradigma« eine Projektion der letzteren Problematik auf die erstere zur Folge hatte (vgl. Michael Omi und Howard Winant, Racial Formation in the United States, London/New York, Routledge and Kegan Paul, 1986).
4 Vor allem in »Les présuppositions définitionnelles d’un indéfinissable: le racisme« (Mots, Nr. 8, März 1984); »L’identité nationale saisie par les logiques de racisation. Aspects, figures et problèmes du racisme différentialiste« (Mots, Nr. 12, März 1986); »L’identité française au miroir du racisme différentialiste«, in: Espaces 89, L’identité française, Edition Tierce, 1985. Der Grundgedanke ist auch schon in den Untersuchungen Colette Guillaumins enthalten, ebenso in: Véronique de Rudder, »L’obstacle culturel: la différence et la distance«, L’Homme et la société, Januar 1986. Für die angelsächsischen Länder vgl. Martin Barker, The New Racism. Conservatives and the Ideology of the Tribe, London, Junction Books, 1981.
5 Ein 1971 für die Unesco verfasster Vortrag, jetzt wieder aufgenommen