Rasse, Klasse, Nation. Immanuel Wallerstein
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Es ist kein bloßer Zufall, dass die Theorien des differenzialistischen Rassismus (die sich von nun an als Träger des wahrhaften Anti-Rassismus und damit auch des wahrhaften Humanismus darstellen können) sich leicht mit der »Massenpsychologie« verbinden, die durch ihre allgemeinen Erklärungen die irrationalen Bewegungen, die kollektive Aggressivität und Gewalttätigkeit und insbesondere die Xenophobie rehabilitiert. Darin kommt das schon weiter oben von mir angesprochene Doppelspiel voll zum Zug: Einerseits wird der großen Menge eine Erklärung für ihre eigene »Spontanität« angeboten, andererseits wird implizit dieselbe Menge eben dadurch als »primitive Masse« abgewertet. Die neo-rassistischen Theoretiker sind keine Mystiker des Erbguts, sondern ganz »realistische« Techniker der Sozialpsychologie …
Indem ich die Retorsionseffekte des Neo-Rassismus auf diese Weise darstelle, vereinfache ich sicherlich die Genese und die Komplexität seiner inneren Variationen. Aber mir geht es hier darum, klar herauszuarbeiten, worum es in der Entwicklung des Neo-Rassismus strategisch geht. Das macht dann anschließend Korrekturen und Ergänzungen erforderlich, die ich an dieser Stelle nur andeuten kann.
Der Gedanke eines »Rassismus ohne Rassen« ist gar nicht so revolutionär, wie man vielleicht denken könnte. Ohne hier auf alle Wendungen der Bedeutungsgeschichte des Wortes »Rasse« einzugehen, dessen »historiosophischer« Gebrauch etwa tatsächlich noch vor jeder Neuformulierung der »Genealogie« im Rahmen der »Genetik« liegt, müssen hier einige bedeutende historische Tatsachen gekennzeichnet werden, so unbequem diese auch (für eine gewisse Vulgärform des Anti-Rassismus, aber auch für die Umstülpungen, die diese durch den Neo-Rassismus erfahren hat) sein mögen.
Es hat immer schon einen Rassismus gegeben, für den der pseudobiologische Rassenbegriff kein wesentlicher Springpunkt war –nicht einmal auf der Ebene seiner sekundären theoretischen Ausarbeitungen. Sein Prototyp ist der Antisemitismus. Der moderne Antisemitismus – jener also, der sich im Europa der Aufklärung herauszukristallisieren beginnt, d. h. ausgehend von der etatistischen und nationalistischen Wendung, die das Spanien der Reconquista und der Inquisition dem theologischen Antijudaismus gegeben haben – ist bereits ein »kulturalistischer« Rassismus. Gewiss haben die körperlichen Stigmata darin einen bedeutenden phantasmatischen Stellenwert, jedoch eher als Zeichen einer tief sitzenden Psychologie, eines geistigen Erbes, denn eines biologischen Erbgutes.7 Diese Zeichen sind sogar, wenn man das so sagen kann, um so verräterischer, desto weniger sichtbar sie sind, und der Jude ist um so »echter«, je unerkennbarer er ist. Sein Wesen besteht darin, eine kulturelle Tradition und ein Ferment moralischer Zersetzung zu bilden. Der Antisemitismus ist also differenzialistisch par excellence – und unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten lässt sich der gegenwärtige differenzialistische Rassismus seiner Form nach als ein verallgemeinerter Antisemitismus betrachten. Dieser Hinweis ist besonders wichtig, um die gegenwärtige Feindschaft gegenüber den Arabern, vor allem in Frankreich, zu begreifen. Sie ist verbunden mit einem Bild des Islam als einer mit dem europäischen Denken (européicité) unvereinbaren »Weltanschauung« und als eines auf universelle ideologische Herrschaft angelegten Unternehmens, d. h. sie verwechselt systematisch »Arabertum« und »Islamismus«.
Damit richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf eine historische Tatsache, die zuzugeben noch schwerer fällt, die aber für ein Verständnis der für Frankreich spezifischen, nationalen Form der rassistischen Traditionen von zentraler Bedeutung ist. Gewiss gibt es auch eine spezifisch französische Traditionslinie der Lehre von der arischen Rasse, der Anthropometrie und des biologischen Genetizismus. Aber die wirkliche »französische Ideologie« ist das nicht. Sie liegt vielmehr in dem Gedanken eines universellen Erziehungsauftrags gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht, der der Kultur eines »Landes der Menschenrechte« übertragen sei, und dem dann in der Praxis die Assimilierung beherrschter Bevölkerungen entspricht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Individuen oder Gruppen nach ihrer mehr oder minder großen Eignung bzw. nach ihrem mehr oder minder großen Widerstand gegen diese Assimilierung zu unterscheiden und zu bewerten. Diese sowohl subtile als auch erdrückende Form einer Ausschließung in Gestalt der Einschließung hat sich im Prozess der Kolonisierung entfaltet, in der spezifisch französischen (oder auch »demokratischen«) Variante der »Bürde des weißen Mannes«. Ich werde weiter unten auf die paradoxen Verhältnisse von Universalismus und Partikularismus innerhalb der Funktionsweise der rassistischen Ideologien bzw. innerhalb der rassistischen Dimension der Funktionsweise der Ideologien generell zurückkommen.
Umgekehrt wird ohne Schwierigkeiten sichtbar, dass in den neo-rassistischen Lehren das Thema der Hierarchie eher dem bloßen Anschein nach ausgelöscht ist. Der Gedanke der Hierarchie – dessen Absurdität man sogar lautstark proklamieren kann – stellt sich einerseits in der Praxis dieser Lehren her (braucht also nicht ausdrücklich ausgesprochen werden), andererseits ist er in den Kriterien angelegt, die verwendet werden, um die Differenz der Kulturen zu denken (und damit kommen wiederum die besonderen logischen Möglichkeiten des »Meta-Rassismus«, der Position der »zweiten Linie« ins Spiel).
Die vorbeugende Behandlung gegen die »Krankheit der Vermischung« findet dort statt, wo die institutionell etablierte Kultur die Kultur des Staates, der herrschenden Klassen und, zumindest offiziell, auch die der »nationalen« Massen ist, wo also deren Lebens- und Denkweise durch die Institution für legitim erklärt wird. Diese Prophylaxe ist faktisch ein Verbot, sich auszudrücken und sozial aufzusteigen, das als Einbahnstraße funktioniert. Kein theoretischer Diskurs über die Gleichwertigkeit aller Kulturen kann einen wirklichen Ausgleich für die Tatsache schaffen, dass von einem »Black« in Großbritannien oder von einem »Beur« in Frankreich die Assimilation als Voraussetzung dafür verlangt wird, sich in die Gesellschaft »integrieren« zu dürfen, in der er doch bereits lebt (wobei zugleich unterschwellig immer der Verdacht gehegt wird, seine Assimilation sei oberflächlich, unvollständig und bloß vorgetäuscht) und dass dies als ein Fortschritt, ein Emanzipationsakt, als Gewährung eines Rechtes dargestellt wird. Und hinter dieser Tatsache sind dann noch kaum veränderte bzw. erneuerte Varianten des Gedankens wirksam, die historischen Kulturen der Menschheit ließen sich in zwei große Teilmengen einordnen, nämlich in diejenigen, die universalistisch und fortschrittlich und in diejenigen, die unheilbar partikularistisch und primitiv seien. Diese Paradoxie ergibt sich keineswegs zufällig: Ein »konsequenter« differenzialistischer Rassismus müsste notwendigerweise ganz einheitlich konservativ sein und für die Fixierung aller Kulturen eintreten. Er ist auch insofern konservativ, als er der europäischen Kultur- und Lebensweise – unter dem Vorwand, sie vor jedem Einfluss der Dritten Welt (tiersmondisation) schützen zu wollen – jede Art von wirklicher Entwicklung verschließen will. Aber zugleich greift er auch die alten Unterscheidungen von »geschlossenen« und »offenen«, von »unbeweglichen« und »unternehmerischen«, »kalten« und »warmen«, »herdenartigen«