Rasse, Klasse, Nation. Immanuel Wallerstein

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Rasse, Klasse, Nation - Immanuel Wallerstein

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soziologischen Gesetze, nach denen sich menschliche Bevölkerungen bewegen: Man müsse die »Toleranzschwellen« beachten und die »natürlichen Distanzen« einhalten, d. h. man müsse – gemäß dem Postulat, dass die Individuen jeweils ausschließlich die Erben und Träger einer einzigen Kultur sein dürfen – die kollektiven Zusammenhänge voneinander abgrenzen (wobei die nationalen Grenzen in dieser Hinsicht die besten Trennmauern bilden). Damit verlassen wir an genau dieser Stelle die Sphäre des spekulativen Denkens und treten ganz unmittelbar in die der Politik und der Interpretation der Alltags- Erfahrung ein. Dabei ist wohlgemerkt die Kennzeichnung als »abstrakt« keine wissenschaftstheoretische Bestimmung; es handelt sich vielmehr um ein Werturteil, das um so mehr zur Anwendung kommt, je konkreter und wirksamer die Praxisformen sind, auf die es gemünzt ist – also etwa Programme der Stadterneuerung oder der Bekämpfung von Diskriminierung, d. h. der Gegen-Diskriminierung in Schule und Beruf. Von der amerikanischen Neuen Rechten wird dies als »umgekehrte Diskriminierung« bezeichnet, und auch in Frankreich kann man zunehmend hören, wie »vernünftige« Menschen, die mit dieser oder jener extremistischen Bewegung überhaupt nichts zu tun haben, erklären, dass »der Anti-Rassismus den Rassismus erst hervorbringt«, und zwar aufgrund der von ihm betriebenen Agitation, aufgrund seiner Art und Weise, die Masse der Bürger in ihrem Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit zu »provozieren«.6

      Es ist kein bloßer Zufall, dass die Theorien des differenzialistischen Rassismus (die sich von nun an als Träger des wahrhaften Anti-Rassismus und damit auch des wahrhaften Humanismus darstellen können) sich leicht mit der »Massenpsychologie« verbinden, die durch ihre allgemeinen Erklärungen die irrationalen Bewegungen, die kollektive Aggressivität und Gewalttätigkeit und insbesondere die Xenophobie rehabilitiert. Darin kommt das schon weiter oben von mir angesprochene Doppelspiel voll zum Zug: Einerseits wird der großen Menge eine Erklärung für ihre eigene »Spontanität« angeboten, andererseits wird implizit dieselbe Menge eben dadurch als »primitive Masse« abgewertet. Die neo-rassistischen Theoretiker sind keine Mystiker des Erbguts, sondern ganz »realistische« Techniker der Sozialpsychologie …

      Indem ich die Retorsionseffekte des Neo-Rassismus auf diese Weise darstelle, vereinfache ich sicherlich die Genese und die Komplexität seiner inneren Variationen. Aber mir geht es hier darum, klar herauszuarbeiten, worum es in der Entwicklung des Neo-Rassismus strategisch geht. Das macht dann anschließend Korrekturen und Ergänzungen erforderlich, die ich an dieser Stelle nur andeuten kann.

      Der Gedanke eines »Rassismus ohne Rassen« ist gar nicht so revolutionär, wie man vielleicht denken könnte. Ohne hier auf alle Wendungen der Bedeutungsgeschichte des Wortes »Rasse« einzugehen, dessen »historiosophischer« Gebrauch etwa tatsächlich noch vor jeder Neuformulierung der »Genealogie« im Rahmen der »Genetik« liegt, müssen hier einige bedeutende historische Tatsachen gekennzeichnet werden, so unbequem diese auch (für eine gewisse Vulgärform des Anti-Rassismus, aber auch für die Umstülpungen, die diese durch den Neo-Rassismus erfahren hat) sein mögen.

      Damit richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf eine historische Tatsache, die zuzugeben noch schwerer fällt, die aber für ein Verständnis der für Frankreich spezifischen, nationalen Form der rassistischen Traditionen von zentraler Bedeutung ist. Gewiss gibt es auch eine spezifisch französische Traditionslinie der Lehre von der arischen Rasse, der Anthropometrie und des biologischen Genetizismus. Aber die wirkliche »französische Ideologie« ist das nicht. Sie liegt vielmehr in dem Gedanken eines universellen Erziehungsauftrags gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht, der der Kultur eines »Landes der Menschenrechte« übertragen sei, und dem dann in der Praxis die Assimilierung beherrschter Bevölkerungen entspricht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Individuen oder Gruppen nach ihrer mehr oder minder großen Eignung bzw. nach ihrem mehr oder minder großen Widerstand gegen diese Assimilierung zu unterscheiden und zu bewerten. Diese sowohl subtile als auch erdrückende Form einer Ausschließung in Gestalt der Einschließung hat sich im Prozess der Kolonisierung entfaltet, in der spezifisch französischen (oder auch »demokratischen«) Variante der »Bürde des weißen Mannes«. Ich werde weiter unten auf die paradoxen Verhältnisse von Universalismus und Partikularismus innerhalb der Funktionsweise der rassistischen Ideologien bzw. innerhalb der rassistischen Dimension der Funktionsweise der Ideologien generell zurückkommen.

      Umgekehrt wird ohne Schwierigkeiten sichtbar, dass in den neo-rassistischen Lehren das Thema der Hierarchie eher dem bloßen Anschein nach ausgelöscht ist. Der Gedanke der Hierarchie – dessen Absurdität man sogar lautstark proklamieren kann – stellt sich einerseits in der Praxis dieser Lehren her (braucht also nicht ausdrücklich ausgesprochen werden), andererseits ist er in den Kriterien angelegt, die verwendet werden, um die Differenz der Kulturen zu denken (und damit kommen wiederum die besonderen logischen Möglichkeiten des »Meta-Rassismus«, der Position der »zweiten Linie« ins Spiel).

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