Der mondhelle Pfad. Petra Wagner
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Читать онлайн книгу Der mondhelle Pfad - Petra Wagner страница 19
Merdin war in einem anderen Teil des Waldes unterwegs gewesen als ich und der irrigen Annahme, dass ich als Maid nicht so hart geprüft würde wie er. Bei Tarnung und Spurensuche war es ja egal, aber er hat gestaunt, weil ich mich gegen jeden meiner fünf Angreifer genauso erwehren musste wie er. Einen hatte ich sogar früher erwischt als er mich, weil ich ihn von einem Baum aus gesehen hatte. Zwar nur seinen blinkenden Schwertknauf, aber gesehen ist gesehen.
An den habe ich mich herangeschlichen wie ein Wolf auf Beutefang und habe ihm aus meinem längsten Blasrohr eine ordentliche Ladung Pfeile verpasst. Bis er endlich von seinem Baum unten war, hatte er einen im Hintern, einen im Oberschenkel und einen mitten im Genick. Natürlich ohne Betäubungsgift dran, er sollte mich ja im Schwertkampf testen, was er danach auch ziemlich rabiat tat. Am Ende sah er richtig zerzaust aus. Ich dagegen bin tadellos aus dem Wald herausgetreten und meine Prüfer hatten nichts zu bemängeln. Der Zerzauste hat mir sogar feixend sein Schwert hingehalten und Revanche gefordert. Ich habe es natürlich nicht berührt, es war ja nur Spaß.
Merdin musste lachen, als er sich die Szene vorstellte. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen und sprang in dem winzigen Raum herum, als hätte er einen von meinen Blasrohrpfeilen im Hintern. Weil es mittlerweile schon dunkel geworden war, nahm ich ein Stück Glut aus meinem Zunderschwämmchen und legte es in eine Ölschale, die vom obersten Deckenbalken hing. Merdin musste mich hochstemmen, sonst wären wir gar nicht an die Schale herangekommen, so extrem weit oben war sie angekettet. Kaum brannte das Öl, verströmte es auch schon einen ganz intensiven Duft, unbeschreiblich gut, einfach genial. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen und reckten beide die Hälse, um möglichst viel von den Duftschwaden einzuatmen.
Wann ich die Besinnung verloren habe, kann ich absolut nicht sagen. Jedenfalls sah ich einen Hirsch in meinem Traum. Der stand vor mir auf einer großen Wiese und rief mich. Ich lief auf ihn zu, schlug im letzten Augenblick einen Haken und rannte an ihm vorbei. Er stellte sich auf die Hinterläufe und preschte mir lachend hinterher. Übermütig trieben wir uns gegenseitig durch einen schattigen Birkenwald und einen steilen Berg hinauf. Oben auf der Kuppe befand sich eine sonnige Wiese mit herrlichen Blumen und Kräutern.
Ich pflückte Blumen und steckte mir die wohlriechenden Kräuter in den Mund. Die Sonne wärmte mich so angenehm, also legte ich mich auf die Wiese und ruhte mich aus. Als die Sonne im Zenit stand, begann ich zu schwitzen.
Der Hirsch legte sich neben mich und leckte mir den Schweiß ab. Das kitzelte, aber ich fühlte mich gleich viel besser und döste kurz ein. Als ich aufwachte, äste der Hirsch an einem kleinen Weiher. Wir tranken das herrlich erquickende Wasser und liefen gemeinsam von einem duftenden Kraut zum anderen.
So kamen wir zu einem Weg, der zum nächsten Berg führte. Dort glitzerte es in der Sonne und wir wollten sehen, was das war. Also sind wir wieder losgelaufen, aber der Pfad wurde immer schmaler und abschüssiger. Kurzerhand nahm mich der Hirsch auf seinen Rücken, damit ich nicht vom Wege abglitt.
Ich wollte ihm danken und streichelte über seine Flanken, seinen Rücken, die Schultern, den Hals und das Geweih. Bei jedem seiner Schritte konnte ich seine sehnigen Muskeln spüren. Er strotzte vor Kraft. Sein Fell war weich und warm. Sein stattliches Geweih fühlte sich herrlich an. Ich musste es einfach immer wieder berühren und meine Finger glitten über jeden Zacken in seiner Krone.
Der Pfad ging bald steiler nach oben, doch der Hirsch trug mich sicher hinauf und ich war froh, so einen guten Weggefährten zu haben. Auf der Bergkuppe fanden wir wieder eine große Wiese mit saftigem Gras. Was von Weitem so gefunkelt hatte, waren Tautropfen, die in der Sonne glänzten. Das wunderte mich, denn nachmittags gibt es eigentlich keinen Tau mehr.
Erstaunt betraten wir die Wiese und schon beim ersten Schritt merkten wir, dass es kein echter Tau war, sondern winzige Kristalle. Die Wiese war übersät mit Kristallen und es fühlte sich ganz seltsam an, darüber zu laufen. Aber der Hirsch rannte wieder übermütig vor mir her und so trieben wir uns gegenseitig, bis wir erschöpft ins Gras fielen und er mir eifrig den Schweiß ableckte. Kaum hatte er mich auf diese Weise ein wenig abgekühlt, neigte sich die Sonne zum Horizont und die Kristalle erstrahlten in den zartesten Farben.
Ich wollte mir die blauen und grünen genauer ansehen, der Hirsch lief zu den goldenen und veilchenfarbenen, doch wir konnten sie nicht berühren, weil plötzlich Wind aufkam. Die Kristalle trudelten über die Wiese, wie zuvor wir, und als der Wind stärker wurde, trennten sie sich sogar nach Farben. Es sah seltsam aus, aber sie reihten sich tatsächlich aneinander und bildeten einen breiten, vielfarbigen Weg.
Der Hirsch sah mich fragend an, ich nickte und wir betraten den Pfad. Er ging auf der goldenen Bahn, ich legte ihm die Hand auf die Schulter und betrat die grüne. Es wurde heiß und immer heißer, die Abendsonne gleißte, wir konnten kaum noch den Weg vor unseren Füßen erkennen. Mir kam das Laufen auf dem Pfad unwirklich vor. Es war, als würde ich auf der Stelle gehen, aber ich kam trotzdem vorwärts, die Kristalle selbst trugen mich voran. Je weiter wir aufstiegen, desto heißer und strahlender wurde das Licht der Sonne und ich musste die Augen schließen. Der Hirsch führte mich.
Dann waren wir am Ende angekommen und der Sonnenkönig saß vor uns in seinem großen Himmelswagen. Er lächelte und sprach: ‚Danke, dass ihr mir meinen Götterpfad zurückgebracht habt. Dafür gebe ich euch das Schönste, was ein Gott einem Menschen schenken kann.‘ Bei diesen Worten senkte er seine Hände zu den farbigen Kristallen und warf sie hoch in den azurblauen Himmel. Dort tanzten sie, bis sie ihren angestammten Platz fanden und ihre Farben erstrahlten noch heller. Staunend blickten wir hinauf, voller Ehrfurcht.
Der Sonnenkönig sah uns freundlich an und sagte: ‚Und nun euer Lohn.‘ Er hob die Hände zu den Göttern, die um den See der Weisheit im Himmel saßen und bat sie um einen Schluck Wasser daraus. Sie nickten, schöpften jeder eine Hand voll Wasser und warfen es uns mit vollendeter Anmut entgegen. Ganz sanft nieselte es auf uns herab und die große Hitze wich einer angenehmen Frische. Die Regentropfen perlten an uns herunter, vereinigten sich zu einem kleinen Bach und wir glitten darauf zur Erde zurück. Der Sonnenkönig winkte zum Abschied, freudig wiehernd strebten seine Pferde ihrem Nachtlager entgegen.“
Viviane betrachtete die verträumten Gesichter der Frauen. Sie alle schienen noch auf dem Weg zwischen den Welten zu sein. Hanibu hatte garantiert nicht alles verstanden, aber sie sah vor sich hin und ihre Augen wiesen diesen entrückten Blick auf, den sie schon einmal gehabt hatte – damals, bei ihrer ersten Begegnung mit Lew.
Noeira fing sich als Erste. Übermütig schnalzte sie mit der Zunge und schürzte mit Verschwörermiene die Lippen.
„Also, ich will dir mal was verraten, Viviane. Wenn Conall zum Höhepunkt kommt, tanzen vor seinen Augen auch die Sterne.“
Taberia kicherte und dann prusteten alle Frauen los, sogar Großmutter Mara. Lavinia sah interessiert von einer zur anderen.
Flora tätschelte ihren Bauch. „Ja, ja. Und wenn es dann zu nieseln anfängt … und man findet keinen Unterschlupf …“ Sie tippte gegen ihren Unterleib. „ … ist man nass.“ Alle grölten, nur Viviane zog einen Schmollmund.
„Ha, ha. Wie lustig“, knurrte sie, kniff die Augen zusammen und sah sich suchend im Langhaus um. Allerdings schien sie nicht zu finden, wonach sie suchte und lugte deshalb auch noch unter den Tisch. Noeira bückte sich hinterher.
„Was suchst du denn?“
„Was wohl, meinen Humor natürlich. Der scheint mir gerade abhanden gekommen zu sein.“
Alle schmunzelten, nur Lavinia beugte sich über den Tisch und deutete zur Tür.
„Dort!“