Der mondhelle Pfad. Petra Wagner
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Viviane reckte den Hals.
„Ich kann nichts sehen. Wo denn?“
„Oh je! Oh je, oh je! Jetzt kommt er mit vollem Karacho wieder zurück! Achtung! Ha!“
Lavinia sprang auf, riss die Arme hoch und klatschte die Hände zusammen. „Hab ihn erwischt! Bitte schön! Sag mal ‚aaaa‘, Viviane!“
Viviane schmunzelte, sagte artig „aaaa“ und Lavinia stopfte ihr den Humor in den Rachen zurück. Höchst erfreut über den guten Geschmack kaute sie alles ordentlich durch, nuschelte „Nichs desdo drodz, dad hädd mi jama eine vohe sang gönn“, schluckte laut und leckte sich die Lippen. Lavinia kicherte.
Noeira nahm das Spucktuch, das sie immer für Belisama über der Schulter hängen hatte, und wischte Viviane damit sorgfältig den Mund ab. Nebenbei tätschelte sie ihr die Schulter und ließ ihren Gedanken freien Lauf:
„Erstens: Du hast nie danach gefragt. Und zweitens: Wer von uns hätte ahnen können, dass es derlei Initiationen gibt!? Wir sind einfache Bauern! Mutter webt und färbt, ich schnitze Holz, Taberia und Großmutter Mara töpfern, Vater ist Schmied, Conall Sattler, Tarian Tischler, Silvanus Wagenbauer, Schuster und Glasmacher. Dafür braucht man doch keine Initiation! So was gibt es eben nur bei Druiden! Und wenn …“ Noeira fuchtelte mit dem Zeigefinger und tippte sich gegen den Kopf. „ … wenn wir es geahnt hätten? Was hätten wir – deiner Meinung nach – der Taube für einen Brief mitschicken sollen?“ Sie kniff die Augen zusammen und tat so, als müsse sie ein winziges Stück Papyrus beschreiben. „Viviane, hüte dich vor zutraulichen Hirschen im Wald und lass dich nicht nass regnen, sonst bekommst du ein kleines Hirschlein geschenkt?“
Viviane schnaubte. „Da hätte ich bestimmt das Gegenteil davon gemacht, nur um das Hirschlein zu bekommen. Das habe ich noch nicht in meiner Tiersammlung.“
Noeira tätschelte grinsend Vivianes Bauch. „Nur Geduld! Bald hast du eins. Musstest du vor dieser Initiation eigentlich wieder hungern?“
„Ja, natürlich. Wir verbrachten drei Tage in der Höhle mit dem kleinen See, genau wie beim ersten Mal. Es gab also nur geweihtes Wasser.“
„Sonst nichts?“
Viviane schüttelte den Kopf.
„Wie konntest du dann überhaupt gegen all die Krieger im Wald bestehen? Mich hätte der erste bloß anhauchen müssen, da wäre ich schon umgefallen!“
Viviane lachte laut auf und verscheuchte erneut einen Fliegenschwarm.
„Das geht besser, als du dir vorstellen kannst, Noeira. Immer, wenn man Hunger bekommt, trinkt man sich den Bauch mit dem geweihten Wasser voll. Sonst sitzt man nur in der Höhle und wandert zwischen den Welten. In Trance zu geraten, muss man natürlich erst lernen. Bei meiner ersten Initiation habe ich das noch nicht so gut hinbekommen. Da hat mich der Hunger viel stärker gequält. Aber als ich bei dieser letzten Initiation aus der Höhle heraus in die Morgendämmerung trat … Das war absolut genial!
Ihr ahnt gar nicht, was ich plötzlich alles sehen, hören, fühlen, riechen und sogar schmecken konnte! Fährten lesen war ein Kinderspiel! Verstecken erst recht! Und ich spürte eine Kraft in mir wie noch nie zuvor! Jeden, der sich mir in den Weg stellen wollte, den habe ich einfach umgerannt. Mein Lehrer Akanthus hat es die ‚pure Macht der Sinne‘ genannt, die unserem Körper durch das geweihte Wasser dargebracht wird.“
Noeira winkte ab.
„Das hört sich alles recht interessant an, aber auf so eine Erfahrung kann ich gerne verzichten. Mir gluckert schon der Magen von dem ganzen Wasser-Gerede.“
Flora klatschte in die Hände, stand auf und ging hinter den Ofen.
„Da hilft nur eines: Wir essen zu Mittag. Viviane, hol mal die Buttermilch aus dem Keller. Lavinia, hier sind die Holzbrettchen. Noeira, schnipple die Kresse. Taberia, schäl die Zwiebeln. Mara, stech Löcher in die Eier, die schlürfen wir aus.“
Viviane streute sich gerade Salz über ihr zweites Kressebrot, da ertönten die Hörner. Alle traten verwundert auf den Vorbau; nur Viviane blieb sitzen, klappte schnell ihr Brot zusammen und rief Hanibu zurück. Die kam an den Tisch, stopfte sich noch den Rest Zwiebel in den Mund, klatschte einen dicken Klumpen Butter aufs Brot und rollte es halbwegs zusammen. Nach einem Griff in das Näpfchen mit Kresse rannte sie neben Viviane her zur Koppel und versuchte nebenbei, ihr Brot umzudekorieren.
Viviane scheuchte eine Schar Hühner aus dem Weg und rief: „Das gilt mir! Ich habe zwar gestern niemanden gesehen, der meine Hilfe nötig gehabt hätte, aber wer weiß, was da passiert ist! Es hört sich jedenfalls so an, als könnte ich deine Hilfe gebrauchen, Hanibu.“
Hanibu zäumte Dina in Windeseile wieder auf, Viviane ihren großen Arion. Dabei hielt sie ihr Kressebrot zwischen den Zähnen, weil sie es auf die Schnelle nicht weglegen wollte. Arion schnappte einmal zu und grinste sie aus seinem Pferdegesicht schelmisch an. Viviane ließ die Zügel los und stemmte die Hände in die Hüften, da sprang der Schalk auch in ihre Augen. Sie tätschelte seine Nüstern und kraulte ihn hinter den Ohren, während sie ihm das Zaumzeug überstreifte.
„Du bist scheinbar der einzige Mann, der sich um meine Figur sorgt. Silvanus hält mir immerzu was Essbares unter die Nase und schaut nach, wie lange meine Bauchmuskeln noch durchhalten.“
Arion schnaubte und kaute gemächlich weiter.
„Ganz recht. Ich will ja nicht auseinandergehen wie Brotteig. Da es dir so gut schmeckt, gebe ich dir natürlich gerne was ab, wenn ich wieder Kressebrot habe, aber sei froh, dass es kein frisch gebackenes Brot war, Arion. Sonst würdest du bald Bauchschmerzen bekommen und wer würde dich da wohl verarzten müssen, na?!“
Arion schnaubte wieder, schluckte und Viviane schwang sich auf seinen Rücken. Nebenbei bemerkte sie, dass auch Dina zufrieden kaute und Hanibus Hände brotlos waren.
„Und jetzt wie Bruder Wind zum Uhsineberga!“
Arion preschte vorneweg, Dina galoppierte hinterher, wild flatterten die Haare der Pferde und Frauen im Wind. Ohne Streitwagen waren sie viel schneller wieder oben auf dem Berg und sahen schon von Weitem eine alte Frau vor dem Burgtor stehen. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen und knetete ihre Hände. Beim Näherkommen gewahrten sie ihr verweintes Gesicht, bevor sie sich tief und lange verbeugte.
Der Wächter nahm ihnen die Pferde ab und Viviane lief mit Hanibu eilig neben der Frau her. Nach zwei Versuchen gab sie es allerdings auf, die alte Frau nach dem Problem zu fragen, da sie kein ordentliches Wort herausbrachte und nur wehklagte, während sie mit kleinen Schritten an den einfachen Häusern der Handwerker vorbei trippelte, hoch zu den größeren der Krieger, bis sie vor einer Tür anhielt und sich wieder tief verbeugte.
Viviane und Hanibu traten ein und wussten sofort Bescheid.
Eine junge blonde Frau saß auf dem Strohlager und krümmte sich wimmernd. Ihr Unterkleid und das Laken waren blutverschmiert. Ein kleiner Junge klammerte sich an ihren Arm und schluchzte jämmerlich.
„Tinne, jetzt doch noch nicht! Es sollte doch erst in zwei Monden kommen!“, rief Viviane, ging schnell die paar Schritte zum Lager und fasste nach ihren Händen. Doch Tinne stöhnte nur und krümmte sich noch weiter vor.
Viviane sah