Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin. Evelyn Kreißig
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„Es ist das Jahr 2006. Das Flugzeug landet in Nishninowgorod, wo ich mich mit einem Landsmann als Student anmelde und zwei Tage dorthin gehe. Dort wollen wir jedoch nicht bleiben und wir machen einen Fluchtplan. Wir rufen einen Mann aus Pakistan an, der uns für unser restliches Geld ein Zugticket nach Moskau besorgt, wo wir acht Stunden später ankommen. Als wir aus dem Zug aussteigen, werden wir sofort gefangen genommen und müssen mit 60 weiteren Flüchtlingen in einem Zimmer von ca. 10-12 qm Größe zubringen. Nachts liegen wir dicht nebeneinander und können uns kaum bewegen. Zu essen bekommen wir jeden Tag eine kleine Menge Reis. Nach 52 Tagen kommt ein LKW mit einer Ladung Kartoffeln und Zwiebeln. Wir werden mit 14 Leuten in den hinteren Teil gepfercht und kommen 30 Stunden später mit einer Pause von ca. fünf Minuten in Weißrussland an. Dort warten bereits 14 Männer und eine halbe Stunde später kommt ein kleines Auto, in das acht pakistanische und acht indische Männer einsteigen sollen. Nach einer Stunde ist die Fahrt zu Ende und zwei Soldaten fordern uns auf, auszusteigen und schnell zu laufen. Ein Mann kann nicht mehr, weil er starke Bauchschmerzen hat. Um ihn anzutreiben, wird er mit einer großen Holzstange in die Bauchgegend geschlagen. Da er nicht mehr gehen kann, müssen ihn zwei Männer tragen. Nach drei Stunden Fußmarsch kommen wir an einen Teich mit schwarzem, schmutzigem Wasser, durch den wir neun bis zehn Stunden laufen müssen. Insgesamt sind es jetzt 72 Menschen, die zusammengekommen sind. Nach einer Weile sollen alle kurz untertauchen, um nicht entdeckt zu werden. Ein Mann spuckt Blut und wird abwechselnd von sechs Leuten getragen. Wer nicht mehr laufen kann oder will, wird brutal geschlagen. Nach fünf Stunden kommt ein großes Armeeauto, in das alle einsteigen müssen. Der kranke Mann muss Wasser lassen und bekommt eine leere Colaflasche, die er zu diesem Zweck benutzen soll. Als diese jedoch voll ist, hört der Strahl nicht auf, da wahrscheinlich seine Blase geplatzt ist. Wir sollen den Mann zurücklassen, was jedoch niemand will. Seine Kraft ist am Ende, trotzdem bekommt er unaufhörlich die Holzstange zu spüren. An einer Bahnschiene angekommen, sagt man uns, dass hier die Grenze zwischen Russland und der Ukraine verläuft. Wir weigern uns, die zwei Kranken in Russland zu lassen und bezahlen 400 Euro für ihre weitere Mitnahme. Inzwischen kommt ein weiteres Auto, in dem nacheinander 16 Leute transportiert werden. In einem kleinen Dorf angelangt, bleibt das Auto plötzlich im Schlamm stecken und alle, außer den Kranken, müssen schieben. Die meisten Flüchtlinge haben keine Haare, keine Schuhe oder nur einen Schuh. Wieder führt uns unser Marsch durch Wasser, das sich unter einer Brücke befindet und uns bis zur Gürtelhöhe reicht. Den Schmutz kann ich ein halbes Jahr nicht abwaschen, so hat er sich an meinem Körper festgefressen. Die Schleuser lassen uns jetzt allein und geben uns ein Handy, auf dem wir angerufen werden sollen. Drei Stunden vergehen, ohne einen Anruf zu erhalten, der uns über unseren Weitertransport informieren soll.“
Die Odyssee der Flucht ging wochenlang weiter, bis der Zielort Deutschland erreicht wurde. Diese Angaben sind alle bei den entsprechenden Behörden schriftlich niedergelegt. Ich kenne Bara und lernte ihn als einen liebenswerten jungen Mann kennen, der in Deutschland nur eins will: ein besseres Leben als das in seinem Heimatland. Noch immer hat er nur den Aufenthaltsstatus einer Duldung. Das heißt, seine Abschiebung wurde vorübergehend ausgesetzt und er darf den Landkreis Mittelsachsen nicht ohne triftigen Grund verlassen. Damit besitzt der junge Mann aus Pakistan keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel, der u. a. keine Arbeitserlaubnis enthält. Mit dem Risiko einer Strafanzeige, die seine Abschiebung zur Folge haben kann, arbeitet er dennoch in der Firma seines Bruders.
Auch Bilal ist aus Pakistan, der sich in vier Jahren seines Aufenthalts in Deutschland schnell einen umfangreichen deutschen Wortschatz angeeignet hat. Er hat zwei Brüder und zwei Schwestern, sein Vater ist nach einem Arbeitsunfall gestorben. Im vorigen Jahr hat Bilal eine russische Spätaussiedlerin geheiratet, die zwei Kinder mit in die Ehe gebracht hat. Zu der Hochzeit mit ca. zehn Gästen war ich auch eingeladen und erlebte, wie man auch mit bescheidenen finanziellen Mitteln ein schönes Fest organisieren kann.
Russen
Einer meiner Lieblingsschriftsteller mit Migrationshintergrund ist Wladimir Kaminer, der 1990 in der damals noch bestehenden DDR „humanitäres Asyl“ bekam und kurzfristig die Staatsbürgerschaft der DDR und mit dem Beitritt dieser zur BRD automatisch die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft erhielt.
In einer seiner Geschichten unter dem Titel „Von Tübingen nach Böblingen“ zitiert er einen Werbespruch für einen seiner Live-Auftritte mit dem Titel „Der Russe kommt.“ mit der Bemerkung, dass die Russen wohl immer noch Aversionen bei den Deutschen auslösen, und sich dabei selbst auf die Schippe nimmt.
Da auch ein Russe in meinem Deutschkurs lernt, um seine deutschen Sprachkenntnisse zu erweitern, bezog ich diese Geschichte in meinen Unterricht ein und verband sie mit einer Phonetikübung. Der russische Akzent von Kaminer lässt sich ja nun mal nicht verleugnen und dient als gutes Beispiel für bestimmte unüberwindbare Hürden im Erlernen der deutschen Sprache.
Die Aussage „Der Russe kommt!“ kann noch durch den Satz „Die Russen kommen!“ gesteigert werden, den eine Radiomoderatorin machte, als sie von den neuen Einreisebestimmungen für Russen in die Türkei berichtete. Der Inhalt der Nachricht war, dass sich die Türkei schon jetzt auf die vielen russischen Touristen im kommenden Sommer freut und in Antalya sogar ein neues Hotel mit der Architektur des Kremls gebaut wurde. Sie ergänzte diese Meldung noch mit der ihrer Meinung nach lustigen Äußerung: „Aber die Liegen am Strand bleiben in deutscher Hand.“
Meine Oma erzählte mir mehrmals eine Episode, die sie kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte. Auch damals kamen die Russen nach Deutschland, aber aus einem anderen Grund. Nachdem Hitler den Krieg verloren hatte, wurde Ostdeutschland russische Besatzungszone und die Soldaten der Roten Armee waren in vielen Orten präsent. Die Begeisterung der Bevölkerung darüber hielt sich in Grenzen, oft überwog sogar die Angst vor Racheakten und Repressalien. Auch in die Wohnung meiner Großmutter kamen zwei Russen, nachdem sie ihre Pferde im gegenüberliegenden Grundstück angeleint hatten. Während sie sich mit Parfüm besprühten, rannte meine Oma aus der Wohnung ins zwei Kilometer entfernte Polizeirevier, um Hilfe zu holen. Als sie zurückkam, waren die russischen Soldaten jedoch schon wieder weg, doch das Erlebnis hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie erzählte es immer wieder. In der Schule bekamen wir später nichts von solchen oder ähnlichen Situationen zu hören. Im Vergleich zu diesem harmlosen Ereignis gab es jedoch auch andere Vorfälle zwischen Deutschen und Russen wie zum Beispiel Vergewaltigungen und Plünderungen. Einem Russen haben wir Deutschen allerdings auch die problemlose Wiedervereinigung zu verdanken. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn die damalige Sowjetunion dies 1989 versucht hätte zu verhindern. Doch mit Gorbatschow hatte das Land einen Reformpolitiker, der die Zeichen der Zeit erkannte und den Slogan „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ populär machte. Die Euphorie über ein vereintes Deutschland wich bald bei so manchem Ostdeutschen, der bald seine Arbeit verlor, zugunsten des Realitätssinns. Auch die Westdeutschen mussten feststellen, dass die Wiedervereinigung nicht nur positive Auswirkungen auf ihr Leben hatte.Für mich sind Meinungs- und Reisefreiheit große Errungenschaften gegenüber dem Honecker-Staat, der eigene politische Ansichten unterdrückte und Reisen ins nichtsozialistische Ausland nur Privilegierten und später Rentnern erlaubte. Doch auch auf die Russen hatte die Entwicklung in Deutschland vor 20 Jahren positive Auswirkungen, indem Spätaussiedlern die Einreise nach Deutschland erleichtert wurde. Die russische Sprache war mit der Wende für viele Jahre „out“ und aus Russischlehrern wurden Englischlehrer. Doch die Motivation zum Erlernen der englischen Sprache hielt und hält sich bei den Schülern der Mittel- und Förderschulen in Grenzen. In meinen Unterrichtsstunden höre ich oft die Begründung: „Das brauche ich nicht im späteren Leben.“ Ich gebe zu, die Lehrpläne der Fächer sind vollgestopft mit Stoff, der oft wirklich nicht die Frage nach dem Sinn des zu erlernenden Inhalts beantworten lässt. Doch das Lernen einer Fremdsprache sehe ich als sehr wichtig an, gerade im heutigen Zeitalter der Globalisierung.
Sprachkenntnisse und Einbürgerungstest
Meine