Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin. Evelyn Kreißig

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Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin - Evelyn Kreißig

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      Fluchtgründe

      Sergej ist aus Russland und seit 21 Monaten in Deutschland. Seitdem lebt er mit dem Status einer Duldung im Asylbewerberheim in Freiberg. Im vorigen Jahr hat er am BSZ die Abschlussprüfung in der Vorbereitungsklasse mit berufsbildenden Aspekten mit der Note „Eins“ bestanden. Er ist sehr intelligent, sprachgewandt und vielseitig interessiert. Eines Tages hat er mir seine Geschichte erzählt.

      Er lernte vier Jahre an einem Kolleg in Moskau, um später Informatik studieren zu können. Weil er sich dort mit dem Lehrkörper anlegte, musste er das Bildungsinstitut vorzeitig verlassen, so dass er keinen Abschluss besitzt. Sergej ist ein Mensch, der alles hinterfragt und Missstände aufdecken will. Das wurde ihm zum Verhängnis, als er in seiner Heimatstadt eine Kundgebung organisierte, die sich gegen den korrupten Bürgermeister richtete. Die Polizei verhaftete ihn und er musste zwei Tage im Gefängnis verbringen. Von dort aus gelang ihm die Flucht nach Deutschland, wo er seitdem als Untergetauchter lebt. Doch er hat bisher keine Chance, hier ein normales Leben zu führen, da bis heute sein Asylverfahren läuft. Mit seinem Heimatland und mit seiner Familie hat er abgeschlossen.

      Er lebt allein in Deutschland, hat also keine Verwandten hier, die ihm helfen könnten, so dass er auf die Unterstützung fremder Menschen angewiesen ist. Zwei seiner Bezugspersonen sind Herr Z. vom Jugendmigrationsdienst der AWO in Chemnitz und Herr L. vom Café INKA in Freiberg. Da er oft Langeweile hat, besucht er uns manchmal in der Schule und wir laden ihn zu Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts ein. Sergej ist ein sehr sparsamer Mensch, der langfristig plant und genau weiß, was er will. Als er noch für den Einkauf von Lebensmitteln Gutscheine bekam, fragte er mich, ob ich für einen Teil davon für meinen Bedarf einkaufen würde. Ich tat ihm den Gefallen, weil ich keinen Nachteil, aber er den Vorteil hatte, zu Bargeld zu kommen, das er u. a. für die Bezahlung seines Passes sparen will. Der Wert eines Gutscheines betrug pro Tag 4,45 Euro, die Sergej aufgrund seiner haushälterischen Lebensweise für sich nicht in Anspruch nehmen muss.

      Wenn er sich mit mir unterhält, will er immer auf eventuelle Grammatik- oder Aussprachefehler hingewiesen werden. Ja, er macht mich sogar manchmal auf einen Schreibfehler an der Tafel aufmerksam.

      Im November vorigen Jahres erkrankte Sergej an einer schweren Lungenentzündung, so dass er einige Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Dort besuchte ich ihn, wo er uns die Odyssee seines Krankheitsverlaufs erzählte. Nach den Weihnachtsferien bekam ich wie alle DaZ-Lehrer in Sachsen vom Ausländerbeauftragten des Freistaates eine Doppel-CD von Sebastian Krumbiegel von den Prinzen mit dem Titel „Ängste und Träume“ geschenkt. Auf dem Cover schreibt der Sänger: „Alle, die in unserem Land ‚Ausländer raus!‘ schreien, wissen nicht, wovon sie reden. Wir sollten den Menschen, die zu uns kommen, zuhören. Sie haben ihre persönlichen Geschichten und machen hier Erfahrungen, aus denen auch wir etwas lernen können.“

      Jugendmigrationsdienst

      Wöchentlich einmal habe ich Kontakt mit Herrn Mohammad Z., der als Eingliederungsberater des Jugendmigrationsdienstes (JMD) der Arbeiterwohlfahrt Chemnitz die jungen Migranten in Freiberg betreut. Mit ihm arbeite ich seit zwei Jahren eng zusammen und wir haben in dieser Zeit ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut. Herr Z. stammt aus Afghanistan und lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren in Deutschland. Als engagierter Angestellter des JMD unterstützt er vor allem neu zugewanderte Jugendliche und Erwachsene bei der sprachlichen, schulischen, beruflichen und sozialen Eingliederung. Unsere Zusammenarbeit erstreckt sich hauptsächlich auf die Organisation von Veranstaltungen mit den Migranten nach dem Unterricht. Dazu gehören Kino- und Museumsbesuche, Sportnachmittage und Ausflüge in die nähere Umgebung.

      Bei einem unserer Treffen in seinem Büro sagte mir Herr Z., dass die Jugendlichen, die er betreut, nur positiv über mich sprechen. Sie seien sehr dankbar für meine Hilfen bei der Bewältigung der bürokratischen Hürden ihrer Eingliederung, bei ihrer Wohnungssuche, Fahrten zur Ausländerbehörde und vieles mehr. Dafür wolle er mir ausdrücklich Dank sagen. Er machte mich verlegen, aber ich freute mich natürlich über seine Äußerungen und fühlte mich in meiner Arbeit bestätigt. Herr Sarrazin, bei manchen Personen wie auch der Ihren stehe ich sicher mit dieser Einschätzung als Gutmensch mit einem Helfersyndrom da. Ok, da muss ich drüber stehen, doch Handeln halte ich immer noch für die bessere Variante, um Probleme zu lösen, anstatt große Reden zu schwingen bzw. schonungslose Analysen wie die Ihren zu schreiben. Man mag gegen viele Fakten nicht ankommen, praktische Hilfsangebote habe ich in Ihrem Buch, Herr Sarrazin, kaum gefunden.

      Während unseres Gesprächs kamen Arian und Mohammad, die seit einiger Zeit eine Aufenthaltsgestattung haben und deshalb eine eigene Wohnung beziehen durften. Wir hatten viel Spaß und Herr Z. sagte, dass beiden nur noch eine passende Frau fehlt. Ich machte den Vorschlag, sie sollten doch mal in die Disko gehen und ich würde mich auch bereiterklären mitzugehen und schlug das gleiche Herrn Z. vor. Er war begeistert und wir einigten uns darauf, im April oder Mai nach Hartmannsdorf ins Braugut in eine Disko zu fahren. Natürlich nur privat, wie Herr Z. sagte.

      In einer Vertretungsstunde in einer Förderschulklasse des BSZ hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem Schüler, der sich über die seiner Meinung nach große Anzahl von Ausländern in Freiberg wunderte. Dieser fragte mich, warum eigentlich so viele Ausländer nach Deutschland kommen und hier zum Teil uns Deutschen die Arbeit wegnehmen. Außerdem wollte er wissen, warum manche Ausländer zum Beispiel in einem Dönerimbiss arbeiten, obwohl sie kaum Deutsch sprechen können. Er sei aber auf keinen Fall rassistisch, mache sich nur Gedanken darüber.

      Ich erzählte von den Migranten und ihren Geschichten, die in meinem Kurs Deutsch lernen und merkte ihm an, dass ihn das zum Nachdenken veranlasste, und schlug ihm vor, uns doch einmal in der Pause zu besuchen, um die Schüler aus den anderen Ländern näher kennenzulernen. In dieser Woche war ich mit Cristiane, Asis, Arian, Sergej und dem fünfzehnjährigen Ali, der die Mittelschule in Freiberg besucht, im Altstadtcenter Bowling spielen. Dazu laden wir auch immer ausländische Jugendliche ein, die aus verschiedenen Gründen nicht am Deutschkurs teilnehmen.

      Ich habe gerade mal eine Pause vom Schreiben gemacht, als im Fernsehen Dieter Nuhr, der zu meinen Lieblingskabarettisten zählt, den heutigen Satiregipfel u. a. mit der Bemerkung ankündigte: „Herr Sarrazin meint ja in seinem Buch, dass Deutschland immer mehr verdumme und er sich frage, ob er nur der Theoretiker davon oder schon die Auswirkung sei.“ Ich denke, diese Aussage verkraften Sie, Herr Sarrazin, oder? Denn ich habe Sie ja am Anfang des Buches als intelligent eingeschätzt.

      Flüchtlinge

      An einem Vormittag im April war Rohan, der vor vier Jahren aus Pakistan nach Deutschland gekommen war, zu Besuch in der Schule. Er ist ein intelligenter junger Mann, der in seinem Heimatland mit einem Biologiestudium begonnen hat, das er in Deutschland fortsetzen wollte. Da er jedoch nur den Aufenthaltsstatus einer Duldung besitzt, ist das nicht möglich und er muss in einem Dönerladen als „Mädchen für alles“ arbeiten. In seiner Freizeit geht er in ein Fitnessstudio oder beschäftigt sich mit seiner 15-monatigen Tochter, die er zusammen mit einer deutschen Frau hat.

      Jetzt träumt er von einer gemeinsamen Zukunft mit der Mutter seiner Tochter, die er heiraten möchte und mit der er in eine Wohnung in einem Nachbarort von Freiberg ziehen will. Leider hat er den Deutschkurs vorzeitig abgebrochen, weil er viele persönliche Dinge in Zusammenhang mit seiner Aufenthaltsgestattung zu regeln hatte. Ich ermöglichte es ihm allerdings, die Prüfung am Anfang des Schuljahres 2008/09 nachzuholen, die er mit der Note „zwei“ bestand. Leider bekam er aber nachträglich kein Zeugnis, da er zu dem regulären Prüfungstermin im Juni nicht erschienen war. Ich traue ihm ohne weiteres zu, aufgrund seines Wissens und seiner Fähigkeiten ein deutsches Abitur zu machen und zu studieren.

      Eines

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