Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin. Evelyn Kreißig

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Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin - Evelyn Kreißig

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vortrug und auch selbst schrieb. Jedes Jahr nahm ich an Rezitationswettbewerben der Erweiterten Oberschule „Bertolt Brecht“, die damals zum Abitur führte, teil und erreichte immer den ersten Platz. In der elften Klasse, als ich siebzehn war, war ich sogar Teilnehmerin am Bezirksrezitationsausscheid im damaligen Karl-Marx-Stadt mit dem Gedicht von Goethe „Willkommen und Abschied“. Ich erinnere mich noch genau, wie inbrünstig ich es aufsagte und nicht ein einziges Mal stecken blieb.

      Die Jury war zwar begeistert, nahm mir aber meine leidenschaftliche Gestaltung nicht ab, da sie glaubte, dass ich für dieses Liebesgedicht noch zu jung sei, als dass ich mich in die Lage von Goethe als Geliebter von Lotte Buff hätte hineinversetzen können.

      War ja auch so und ich nehme es im Nachhinein den in meinen damaligen Augen alten Lehrern nicht übel. Das Gedicht kann ich bis heute noch auswendig und ich kann Goethe mehr und mehr verstehen. Mein geheimer Berufswunsch war damals der einer Schauspielerin und er fasziniert mich heute noch.

      Einer meiner Vorfahren ist der bedeutende Schriftsteller der deutschen Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing, von dem ich sicher ein paar Gene geerbt habe. Sein Buch „Nathan der Weise“ und die in der Ringparabel aufgeworfene Frage, welche Religion, das Christentum, Judentum oder der Islam, denn nun die richtige sei, hat mich in meinem Denken und Handeln stark beeindruckt und beeinflusst. Da mich meine Eltern atheistisch erzogen haben, stand für mich diese Frage sowieso nie zur Debatte und Lessing hat mich mit seinen Anschauungen über die Bedeutung der Religionen in meinen bestärkt. Für mich war und ist immer zuerst der Mensch wichtig und nicht seine Religion, seine Herkunft oder seine Hautfarbe.

      „Die Türken haben schöne Töchter, und diese scharfe Keuschheitswächter; wer will, kann mehr als eine frein: Ich möchte schon ein Türke sein.“

      (Gotthold Ephraim Lessing)

      Kindheitserlebnis

      Mit einer Ausnahme hatte ich bis vor zehn Jahren keinen näheren Kontakt zu Ausländern. Ich war damals ungefähr zwölf Jahre alt, als mein Vater, der auch Lehrer war, einen Inder als Gast mit zu uns nach Hause brachte. Nach meinen heutigen Schätzungen war er ca. 20 Jahre alt, freundlich und trug einen Turban. Er saß lange mit meinen Eltern und uns Geschwistern zusammen im Wohnzimmer und unterhielt sich mit uns mehr oder weniger verständlich. Wir Kinder mussten später ins Bett gehen und als er sich dann verabschiedete, kam er noch in unser Kinderzimmer. Ich lag im oberen Stock eines Doppelstockbettes und schlief noch nicht, was ich jedoch von meinen zwei Geschwistern annahm. Plötzlich kam er an mein Bett und legte seine Hand zwischen meine Beine. Ich bekam Angst und schob ihn von meinem Bett weg. Daraufhin wiederholte er dasselbe noch einmal und ich sprang geistesgegenwärtig aus dem Bett. Er erschrak und ich habe ihn wohl irritiert, so dass er schnell aus dem Zimmer verschwand. Meinen Eltern erzählte ich später nichts davon.

      Mein Bild von Ausländern entstand, indem ich ihnen dieses Erlebnis als typisch zuordnete. Heute weiß ich längst, dass so etwas nicht ausländertypisch ist, sondern in den besten Familien vorkommt bzw. noch Schlimmeres innerhalb und außerhalb von Kinderzimmern passiert. Es ist bestimmt auch nicht charakteristisch für Angehörige einer bestimmten Religion, sondern einfach eine perfide Eigenschaft bestimmter Menschen, sich an Kindern zu vergehen.

      Jahre später hat mir zum Beispiel meine jüngere Schwester anvertraut, dass sich ihr der zweite Mann unserer Großmutter mütterlicherseits unsittlich nähern wollte, als sie als Kind bei den Großeltern zu Besuch war. Und das war ein Deutscher!

      Das Erlebnis mit dem Inder habe ich verdrängt, es war ja nichts passiert. Wenn ich so an meine Kindheit zurückdenke, kann ich mich nicht erinnern, dass in meiner Heimatstadt Schwarzenberg Ausländer zu sehen waren. Die Straßen waren praktisch leer davon, es gab nicht einmal Vietnamesen, die viele heute, aus welchem Grund auch immer, Fidschis nennen, obwohl sie ja bekannterweise nicht von den Fidschiinseln kommen.

      Man hatte also nur mit Deutschen zu tun, obwohl wir in der Schule Russisch lernen mussten und ich sogar freiwillig am Englischunterricht teilnahm. Komischerweise habe ich mich nie gefragt warum, denn die Aussicht auf einen Auslandsaufenthalt in den betreffenden Ländern war äußerst gering, sozusagen bei fast null Prozent Wahrscheinlichkeit. Heute bin ich natürlich froh, dass ich mich nicht dagegen gesträubt, sondern fleißig gelernt habe. Vor allem meine Englischkenntnisse sind bei meiner Arbeit mit den Migranten von Vorteil, wobei die Muttersprache der meisten Arabisch ist, das ich leider nicht sprechen und verstehen kann. Aber die Sprache drückt sich ja nicht nur in Worten, sondern auch in Gesten, Blicken und Mimik aus.

      Migratio

      In meiner ersten Klasse am Berufsschulzentrum in Freiberg waren drei junge Männer aus Pakistan, die seit sieben Jahren in Deutschland sind und vier Jahre davon im Asylbewerberheim in der Chemnitzer Straße 50 wohnten. Sie hatten bis dahin keine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen, außer der Aneignung des sogenannten Straßendeutsch, mit dessen Hilfe sie mir von ihrer Reise ins Ungewisse erzählten. Ich erfuhr, dass die Jugendlichen aus relativ wohlhabenden Familien stammen und in ihrem Heimatland große Landflächen besitzen. Asim ist einer von ihnen, der mit den politischen Verhältnissen in seinem Land nicht einverstanden ist. Nach wie vor kommt es seit der Machtergreifung des Reformpolitikers Musharraf zu Übergriffen der Sicherheitskräfte und Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Bereichen, vor allem gegenüber Inhaftierten, Frauen und religiösen Minderheiten. Um seine Reise nach Deutschland zu finanzieren, hat Asims Familie einen Teil ihres Landbesitzes an einen Onkel verkauft. In unserem reichen Land angekommen, lebt er jetzt seit vier Jahren als Geduldeter im Asylbewerberheim. Sein Taschengeld bessert er sich durch Schwarzarbeit auf mit dem ständigen Risiko, von der Polizei kontrolliert zu werden. Er ist unendlich dankbar, in die Schule gehen zu dürfen, um seine Chance eines dauerhaften Aufenthalts in Deutschland zu erhöhen. Im März erfährt Asim von seiner Hepatitis-Krankheit, die für die anderen Heimbewohner eine Ansteckungsgefahr bedeutet. Für ihn beginnt eine Odyssee, die ihn von Behörde zu Behörde und von einem Arzt zum anderen führt. Sein Hausarzt und die Gesundheitsbehörde werden aktiv und informieren den Heimleiter und die Ausländerbehörde. Eine Vertreterin des Sächsischen Flüchtlingsrates hat sich außerdem darüber informiert, dass Hepatitis C in Pakistan nicht erfolgreich zu behandeln ist, um eine eventuelle Abschiebung des pakistanischen Flüchtlings zu verhindern. Im Juni fahre ich mit Asim nach Chemnitz ins Küchwald-Krankenhaus, wo er sich behandeln lassen muss und im Juli eine längere Therapie zur Überwindung seiner Krankheit beginnt. Ich formuliere für ihn einen Antrag an das Landratsamt für eine Wohnungsberechtigung, der auch bewilligt wird. Zusammen suchen wir im Internet nach einer Wohnung und erkundigen uns bei der Städtischen Wohnungsgemeinschaft in Freiberg danach. Leider haben wir keinen Erfolg, da zurzeit ein Mangel an Einraumwohnungen besteht, die in dem Mietpreislimit von 250 Euro liegen müssen. Überraschend erhält Asim Anfang Juli die Ablehnung seiner Wohnungsberechtigung durch das Landratsamt. Die Odyssee beginnt von vorn. Bei der Suche nach Hilfsangeboten erhält der Jugendliche aus Pakistan den Rat, sich an die damalige Landesvorsitzende der Linken im sächsischen Parlament Cornelia E. zu wenden. Ich formuliere einen Brief mit der Bitte an sie, sich für eine Wohnungsgenehmigung für ihn einzusetzen. Es dauert nicht lange und Asim kann eine Einzimmerwohnung in Brand, einem Ortsteil von Freiberg, beziehen. Nach ein paar Wochen besuche ich ihn dort und er berichtet mir, dass seine Krankheit weitestgehend geheilt ist und er eine Arbeitserlaubnis bekommen hat.

      Warum verlassen Menschen ihre Heimat mit dem Risiko, in einem fremden Land nicht willkommen zu sein? Die Antwort ist so einfach und kompliziert zugleich und wird für jeden Menschen anders ausfallen. Einfach deshalb, weil die Menschen schon immer gewandert oder umgezogen sind, ob freiwillig oder unter Zwang. Das Wort „Migration“ stammt von dem lateinischen Wort „migratio“ ab und bedeutet so viel wie „(Aus-)Wanderung, Umzug“. Wenn ich in meinem Bekanntenkreis die Frage nach meiner Tätigkeit damit beantworte, dass ich Migranten unterrichte und betreue, wird oftmals nachgefragt, wodurch diese sich von Ausländern

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