Hitlers Vater. Roman Sandgruber
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1871 war ein politisch besonderes Jahr. Nun lag auf der anderen Seite des Inns nicht mehr nur Bayern, sondern das neu gegründete, voll Siegeskraft strotzende Deutsche Reich. Österreich als frühere Führungsmacht in Mitteleuropa war in die zweite Reihe getreten. Der preußische König war nun auch ein Kaiser. Der deutsche Nationalstaat, der bisher nur erträumt war, war Realität geworden und versprach wirtschaftliche Dynamik, moderne Wissenschaft, militärische Stärke und einen Platz an der Sonne. Deutschland war der neue Hoffnungsträger und die Habsburgermonarchie nur mehr der kranke Mann an der Donau. Der Ruhm der nationalen Einigung fiel einzig auf das Deutsche Reich. Österreich stand abseits. Die Deutschen der Habsburgermonarchie waren orientierungslos geworden: Zerrissen zwischen habsbur-gisch-großdeutscher und preußisch-kleindeutscher Lösung, zwischen pangermanischen Träumen der nationalen Einigung aller Deutschen und dem immer umstrittener werdenden kulturellen Führungsanspruch des Deutschtums im multinationalen Staat der Habsburgermonarchie.
Nach der deutschen Reichsgründung 1871 und der damit vollzogenen »kleindeutschen Lösung«, d. h. der Einigung Deutschlands unter Ausschluss Österreichs, blieben viele Österreicher weiterhin »großdeutschen« Ideen verbunden. Die Alldeutschen und Deutschnationalen erstrebten eine enge politische Anbindung an das Deutsche Reich oder sogar die vollständige Auflösung der Habsburgermonarchie und den Anschluss aller von Deutschen besiedelten Teile an den neuen Nationalstaat. Ein führender Vertreter dieser politischen Richtung war Georg Ritter von Schönerer. Im Linzer Programm von 1882 stellten die Deutschnationalen die Parole »nicht liberal, nicht klerikal, sondern national« auf und wandten sich damit nicht nur gegen den multinationalen Habsburgerstaat, sondern auch gegen den politischen und gesellschaftlichen Einfluss der katholischen Kirche, die seit alters her eine wesentliche Stütze der Habsburger gewesen war, und auch gegen die Juden als vermeintliche Feinde einer nationalen Gesellschaft. Dann gab es jene, die zwar keine Auflösung der Habsburgermonarchie, wohl aber die Bewahrung oder Durchsetzung der deutschen Vorherrschaft im Staat als Ziel hatten, und die voll Verachtung auf alle übrigen Nationalitäten des Kaiserreiches blickten. Jene hingegen, die auf einen Ausgleich der Nationalitäten und auf ein friedliches Zusammenleben hofften, waren wahrscheinlich sogar die Mehrheit, aber sicher nicht die lautesten.
Das Kaiserreich Österreich war seit den 1850er Jahren im industriellen und selbst im agrarischen Bereich immer weiter hinter die Staaten des Deutschen Zollvereins zurückgefallen. Während Preußen die Zollvereinsmitglieder auf einen Freihandelskurs einschwor, blieb Österreich tendenziell schutzzöllnerisch. Die Verkehrsanbindungen Sachsens und Bayerns an Österreich und Böhmen blieben trotz des fortschreitenden Eisenbahnbaus gering. Es entstand ein deutliches Gefälle zwischen der Habsburgermonarchie und dem Kommunikationsraum, den das übrige Deutschland zu bilden begann. Der Vielvölkerstaat Österreich, der sich mehr und mehr mit den slawischen, magyarischen und italienischen Nationalbewegungen auseinandersetzen musste, hatte es versäumt, die deutschen Mittelstaaten in eine Politik einzubeziehen, die den Deutschen Bund als mitteleuropäische Staatengemeinschaft gesichert hätte. Österreich entschied sich zwar nach der Niederlage von 1866 nicht für eine Revanchepolitik, sondern für eine Allianz mit dem Deutschen Reich. Aber es wurde zunehmend klarer, dass die Habsburgermonarchie in dieser Allianz der schwächere Partner war und diese Allianz den Vielvölkerstaat auf eine zunehmend schwerere Probe stellen würde.
Auch Braunau war im Umbruch. Es gab auch hier das Gefühl des Fortschritts, aber gleichzeitig auch schwerwiegende Rückschläge. 1871 boomte die Wirtschaft nicht nur in Wien, sondern auch am Inn: in Wien der überhitzte Ringstraßenbau, in Braunau die Auswirkungen des Eisenbahnbaus und des Anschlusses an das moderne Kommunikationsnetz. Dass der riesige Grenzbahnhof auf der bayerischen Seite in Simbach errichtet worden war, schmerzte. Doch rasch erschienen Krisenzeichen. In Wien erschütterte der große Börsenkrach von 1873 die Wachstumseuphorie. In Braunau veränderten schwere Brände das Stadtbild. Schon 1871 waren 16 Häuser am Lerchenfeld abgebrannt. 1874 folgte ein wirklich verheerendes Feuer, dem insgesamt 122 Objekte im Innenstadtbereich zum Opfer fielen; ein Drittel aller Häuser waren zerstört, darunter auch das Rathaus mit dem Stadtarchiv. Mehr als 20 Feuerwehren aus Oberösterreich, Salzburg und Bayern waren im Einsatz und kämpften zehn Tage lang gegen die Flammen. Der Jammer war grenzenlos; glücklicherweise war kein Menschenleben zu beklagen. Doch die Brandkatastrophe konnte das rasche Stadtwachstum von 2.676 auf 3.625 Einwohnern zwischen 1870 und 1890 nicht hemmen. Wohnungen waren knapp, häufige Wohnungswechsel die Regel.
Adolf lebte hier nur einige Monate: das Hitler-Geburtshaus in Braunau am Inn, Vorstadt 219, damals der »Gasthof zum Braunen Hirschen« (links).
Der Dienstort des Vaters: die kaiserliche Zollstation erster Klasser am Bahnhof Simbach. Auf- und Grundriss des Hauptgebäudes (Mitte).
Loyal zu Kaiser und Monarchie und doch gleichzeitig deutschnational und pangermanisch denkend: die Linzer Zoll- und Verzehrungssteuerbeamten, um 1914 (unten).
Für Alois war in Braunau der beschwerliche und gefährliche Außendienst vorbei. Die erhaltenen Fotos bestätigen eine stattliche äußere Erscheinung, mit einem im 19. Jahrhundert durchaus noch geschätzten Wohlstandsbäuchlein, mit blinkenden Knöpfen, goldfarbener Bauchbinde, Säbel und Zweispitz. Seine Bartmode folgte der des Kaisers. Seine Karriere war ja wirklich beachtlich: Nur mit einfachster Pflichtschulbildung hatte er den Sprung vom reinen Wachdienst zum Beamtenstatus geschafft, zuerst als Amtsassistent, dann Kontrolleur, schließlich Zollamtsoffizial, zuletzt Oberoffizial. Alois war in der Mittelschicht angekommen. 1876 schrieb er voll Stolz an eine Verwandte in Niederösterreich: »Seit Du mich vor 16 Jahren zum letzten Mal gesehen hast, als ich ein Finanzwach-Oberaufseher war, bin ich sehr weit aufgestiegen und habe bereits zwölf Jahre als Beamter im Zollwesen gedient.« An das Ende dieses um Eindruck heischenden Briefs setzte er seine Adresse: »Beamter in der kaiserlichen Zollstation erster Klasse am Bahnhof Simbach, Bayern, Adresse Braunau, Linzerstraße.«76
Zöllner sind staatstreu. Sie standen an der Außenfront des Staates, bewachten die Grenzen, kontrollierten die Verzehrungssteuerlinien und verschafften dem Staat den Großteil seiner Einnahmen, was nicht heißt, dass sie nicht manchmal auch in die eigene Tasche wirtschafteten. So war auch Alois gleichzeitig unbedingt loyal zum Kaiser und zum Habsburgerstaat und konnte doch gleichzeitig deutschnational und pangermanisch denken. Sein Brot kam vom österreichischen Staat. Ein Anschluss an Deutschland hätte ihm quasi die Existenz entzogen. »Pangermane, dabei merkwürdigerweise doch kaisertreu«, nannte ihn später einmal der Leondinger Bürgermeister Josef Mayrhofer.77
Alois Hitler war ein österreichischer Beamter. Aber was war das Österreichische an ihm? Auf jeden Fall unterschied er sich in der Lebensführung, im Familienleben, sicherlich auch in den Essgewohnheiten und in der Freizeitgestaltung vom Wiener Beamtentyp. Viele Freunde scheint er unter den eingesessenen Braunauer Bürgern nicht gehabt zu haben. Alle, die man kennt, kamen aus seinem engeren Berufsumfeld. Zöllner waren nirgendwo wirklich beliebt. Aber in Braunau, wo viele immer noch bayerisch dachten und wo immer noch viele Verwandtschafts- und Wirtschaftsbeziehungen über den Inn hinweg bestanden, waren sie besonders wenig geliebt. Sie überwachten den Verkehr mit den Gegenständen des Alltags, die man über die Brücke zwischen Simbach und Braunau bringen konnte und durch den Zoll kontrollieren lassen musste oder an ihm vorbeischmuggeln wollte: Zucker, Salz, Tabak, aber auch Fleisch, Mehl, optische Geräte, Chemikalien und andere hoch besteuerte Alltagsdinge. Auseinandersetzungen zwischen Schmugglern und Staatsorganen waren an der Tagesordnung.
Alois