Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-Zinn
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Читать онлайн книгу Mit Kindern wachsen - Jon Kabat-Zinn страница 13
Nach einer Weile legte die Lady ihre Hände auf seine Brust und drückte ihn sanft von sich weg. „Hör zu“, sagte sie, „du musst nun eine schwierige Entscheidung treffen. Ich habe dir schon gesagt, dass ich bis jetzt nur teilweise von dem Zauber befreit bin, der auf mir lastet. Weil du mich zur Frau genommen hast, ist er zur Hälfte gelöst; aber eben nur zur Hälfte.“
Lady Ragnell erklärte, dass sie nun jeweils die Hälfte eines Tages in ihrer natürlichen Gestalt erscheinen könne, und Gawain müsse entscheiden, ob er sie am Tage schön und in der Nacht hässlich oder in der Nacht schön und am Tage hässlich sehen wolle.
„Das ist wahrlich eine schwere Entscheidung“, sagte Gawain.
„Denke nach“, erwiderte Lady Ragnell.
Doch Sir Gawain sagte ohne zu zögern: „Meine Liebe, sei hässlich am Tag und schön für mich allein!“
„Wohlan“, antwortete Lady Ragnell, „ist das deine Entscheidung? Muss ich hässlich und entstellt sein unter den Damen der Königin und ihre Verachtung und ihr Mitleid ertragen, obgleich ich in Wahrheit so schön bin wie sie alle? Sir Gawain, ist dies Eure Liebe?“
Sir Gawain beugte nun sein Haupt. „Ich habe nur an mich selbst gedacht. Wenn es Euch glücklicher macht, so seid schön am Tage und nehmt bei Hof den Platz ein, der Euch gebührt. In der Nacht werde ich Eure sanfte Stimme in der Dunkelheit hören und mich daran erfreuen.“
„Das ist fürwahr die Antwort eines Geliebten“, sagte Lady Ragnell. „Aber ich möchte schön für dich sein; nicht nur für den Hof und für die Welt am Tage, die mir weitaus weniger bedeuten als du.“
Und Gawain sagte: „Wie es auch sei, du bist es, die am meisten leidet; und da du eine Frau bist, glaube ich, dass du in diesen Dingen über mehr Weisheit verfügst als ich. Entscheide selbst, meine Liebe, und wie du auch entscheiden magst, ich werde damit zufrieden sein.“
Daraufhin schmiegte Lady Ragnell sich an ihn und weinte und lachte zugleich. „Oh, Gawain, mein Liebster, indem du erkannt hast, dass ich die Entscheidung treffen muss, indem du mir meinen eigenen Willen gelassen hast, indem du mir eben jene Selbstbestimmung gewährt hast, die die Antwort auf die Rätselfrage war, hast du den Zauber völlig gebrochen, und ich bin nun frei von ihm und kann bei Tag und bei Nacht meine wahre Gestalt zeigen.“
Sieben Jahre lebten Sir Gawain und Lady Ragnell überglücklich zusammen, und während dieser ganzen Zeit war Gawain sanfter, gütiger und unerschütterlicher, als er je zuvor gewesen war. Nach sieben Jahren jedoch ging Lady Ragnell davon – niemand wusste wohin –, und etwas von Gawain entschwand mit ihr.
Teil Drei
Grundlagen der
Achtsamkeit in der Familie
Selbstbestimmung
Schauen wir uns nun das geheimnisvolle Juwel im Herzen von Gawains Geschichte an: Selbstbestimmung, die Antwort auf die Rätselfrage: „Was begehren Frauen am meisten?“
Das Wissen von der Selbstbestimmung errettete König Arthur vor dem sicheren Tod. Doch erst das tiefe Gefühl für den Wert der Selbstbestimmung, das aus Sir Gawains Empathie gegenüber Lady Ragnell erwuchs, löste ein Dilemma, das allein mit Hilfe des Denkens nie hätte gelöst werden können: Indem er ihr die Entscheidung überließ, gestand er ihr Selbstbestimmung zu, und dadurch wurde die Transformation möglich.
Dies ist auch der Schlüssel, wenn wir Achtsamkeit in der Familie kultivieren wollen. Indem wir unseren Kindern Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit zugestehen, ermöglichen wir ihnen zum einen, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, und zum anderen, ihren eigenen Weg zu finden. Beides benötigen sie, um wirklich erwachsen werden zu können.
Wie oft sind unsere Kinder wie in einem Zauber gefangen, wie oft werden sie von mächtigen Energien mitgerissen, so dass sie plötzlich zu Dämonen, Hexen, Trollen, Ungeheuern und Kobolden werden? Sind wir als Eltern in solchen Augenblicken so wie Gawain in der Lage, die äußere Erscheinung zu durchschauen, über die wir vielleicht erschrecken, und ihre wahre Natur hinter dem Zauber zu erkennen? Können wir Raum in uns schaffen, so dass wir sie so lieben können, wie sie sind, ohne dass sie sich verändern müssen, um uns zu gefallen? Und wie oft stehen wir Eltern selbst unter einem Zauberbann? Wie oft zeigen wir unseren Kindern unsere grausame Seite, den Menschenfresser oder die Hexe in uns? Wie sehr sehnen wir uns insgeheim danach, von anderen so gesehen und akzeptiert zu werden, wie wir sind, und unseren eigenen Weg in unserem Leben zu finden?
Mary Pipher weist in ihrem Buch Reviving Ophelia darauf hin, dass die Antwort auf Sigmund Freuds gönnerhafte Frage: „Was wollen Frauen?“ in Therapiesitzungen mit Frauen immer wieder zutage tritt und dass, obwohl sie alle „etwas anderes und Spezielles wollen … jede Frau letztlich das gleiche will – die sein, die sie tatsächlich ist, die werden, die sie werden kann“, „das Subjekt ihres eigenen Lebens und nicht [nur] Objekt im Leben anderer“.
Wenn Selbstbestimmung bedeutet, die Person zu sein, die man wirklich ist, und die Person zu werden, die man werden kann, könnte sie dann nicht auch die Antwort auf die allgemeinere Frage sein: „Wonach sehnt sich jeder Mensch in seinem Herzen am meisten?“ oder gar: „Was verdient jeder Mensch am meisten?“
So verstanden, ist Selbstbestimmung kein äußeres Streben nach Macht, obgleich es sehr machtvolle Auswirkungen haben kann, mit ihr in Kontakt zu sein. Man könnte eine tiefe Beziehung zwischen der Vorstellung innerer Selbstbestimmung und der buddhistischen Vorstellung der Buddha-Natur sehen, die wiederum mit der Vorstellung des wahren Selbst verwandt ist. Die Gestalt des Buddha ist die Verkörperung eines Geistes- und Herzenszustandes, der am besten als „mit sich selbst in Kontakt sein“, „bewusst sein“, „wissen“ oder „erwacht sein“ umschrieben werden kann. Nach buddhistischer Auffassung sind unser individueller Geist und der Buddha-Geist im Grunde ein und dasselbe, und unsere wichtigste Aufgabe als Menschen besteht darin, uns dieser essentiellen Einheit bewusst zu werden. Die Buddha-Natur liegt allem zugrunde. Alles ist vollkommen und einzigartig, und doch ist nichts vom Ganzen getrennt. Insofern ist die wahre Natur jedes Menschen die Buddha-Natur, und in dieser Hinsicht sind wir alle gleich. Die wahre Natur jedes Menschen ist souverän selbstbestimmt. Wir müssen nur erkennen, dass das für alle Menschen gilt, und es würdigen – bei unseren Kindern, bei uns selbst, letztlich bei allen Wesen.
Natürlich ist dieses „nur erkennen“ nicht so leicht, wie es sich anhört. Es ist eine Arbeit, die ein ganzes Leben oder vielleicht sogar viele Leben erfordert. Oft kennen wir unsere eigene wahre Natur nicht oder haben den Kontakt zu ihr verloren. Doch wenn wir den Kontakt zu unserer wahren Natur verloren haben, kann das für uns selbst und andere viel Leid hervorbringen.
Der Buddha wird manchmal „einer, der Selbstbestimmung gegenüber sich selbst hat“ genannt. Ereignisse reißen uns mit sich, und wir lieben uns selber. Die Geh-Meditation hilft uns, unsere Selbstbestimmung wiederzufinden, unsere Freiheit als menschliche Wesen. Wir gehen mit Anmut und Würde, wie ein Kaiser, wie ein Löwe. Jeder Schritt ist Leben.
Thich Nhat Hanh, The Long Road Turns to Joy
Dass wir den innersten Kern anderer Menschen wertschätzen, kommt symbolisch in der Sitte zum