Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-Zinn
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Um unsere Aufgabe als Eltern auf achtsame Weise erfüllen zu können, ist es hilfreich, etwas darüber zu wissen, was Achtsamkeit ist. Achtsamkeit ist ein Gewahrsein, das jeden einzelnen Augenblick erfasst, ohne darüber zu urteilen. Wir können dieses Gewahrsein entwickeln, indem wir unsere Aufmerksamkeit verfeinern, unsere Fähigkeit zur Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick schulen und diese Aufmerksamkeit so gut wie möglich aufrechterhalten. Wenn wir dies versuchen, wird unser Kontakt zu unserem Leben, so wie es sich Augenblick um Augenblick entfaltet, immer intensiver.
Gewöhnlich vergeht ein großer Teil unseres Lebens mit automatischen Reaktionen. Wir sind nur sehr partiell und eher zufällig aufmerksam, und viele wichtige Dinge erscheinen uns als Selbstverständlichkeiten, oder wir beachten sie erst gar nicht. Wir beurteilen gewöhnlich alles, was wir erleben, indem wir uns blitzschnell und oft völlig unkritisch Meinungen bilden, deren Maßstab in den meisten Fällen ist, was wir mögen oder nicht mögen, was wir wollen oder nicht wollen. Achtsamkeit kann Eltern sehr effektiv bei der Erfüllung ihrer Aufgabe helfen, all das bewusst zu registrieren, was in jedem einzelnen Augenblick geschieht, und so durch den Schleier der automatischen Gedanken und Gefühle zur Wahrnehmung einer tieferen Realität zu gelangen.
Achtsamkeit ist ein zentrales Anliegen buddhistischer Meditation, wobei es vor allem darum geht, Aufmerksamkeit zu entwickeln und zu kultivieren. Diese Praxis ist in verschiedenen Meditationsschulen in ganz Asien seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren gepflegt und weiterentwickelt worden, und sie stößt heute in vielen Bereichen der westlichen Gesellschaft auf zunehmendes Interesse – unter anderem in der Medizin, den Neurowissenschaften, der Psychologie, der Gesundheitsvorsorge, in der Erziehung, im Justizwesen sowie in Sozialprogrammen.
Achtsamkeit ist eine meditative Disziplin. Es gibt viele meditative Disziplinen. Wir könnten sagen, dass all diese Methoden Türen ähneln, die in ein und denselben Raum führen. Von jeder dieser Türen aus eröffnet sich dem Betrachter eine einzigartige Perspektive, die sich von dem Anblick, der sich von den anderen Türen aus bietet, völlig unterscheidet. Doch ganz gleich, durch welche Tür wir den Raum betreten, wenn wir darin stehen, ist es immer der gleiche Raum. Ganz gleich, an welcher Meditationsmethode oder -tradition wir uns orientieren: Was in der Meditation geschieht, ist immer ein Sich-Einstimmen auf die Ordnung und Stille, die jede Aktivität enthält, so chaotisch sie uns auch erscheinen mag. Dieses Sich-Einstimmen geschieht mit Hilfe unserer Fähigkeit zur Aufmerksamkeit.
Obgleich die Achtsamkeit in der buddhistischen Tradition besonders differenziert beschrieben worden ist, spielt sie in allen Kulturen eine wichtige Rolle und ist etwas wahrhaft Universales, da sie nichts anderes beinhaltet als die Entwicklung von Bewusstheit, Klarheit und Mitgefühl, also von Fähigkeiten, die alle Menschen besitzen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Kultivierungsarbeit zu leisten, und keine von ihnen ist die einzig richtige, ebenso wenig wie es eine einzig richtige Art gibt, mit Kindern umzugehen.
Achtsamkeit beinhaltet für uns als Eltern, dass wir uns im Alltagsleben mit unseren Kindern der wirklich wichtigen Dinge bewusst bleiben. Wir werden feststellen, dass wir uns die meiste Zeit über gezielt darum bemühen müssen, uns zu vergegenwärtigen, was dies ist. Es kann sogar sein, dass wir in bestimmten Augenblicken absolut nicht wissen, was wichtig ist, weil uns unsere Orientierung verloren gegangen ist – das kann sogar sehr leicht geschehen. Doch selbst in den schwierigsten und schrecklichsten Augenblicken unseres Lebens als Eltern können wir bewusst von der aktuellen Situation Abstand nehmen und uns mit einem frischen, unvorbelasteten Blick fragen: „Was ist in dieser Situation wirklich wichtig?“
Achtsamkeit beinhaltet für uns als Eltern, dass wir uns daran erinnern, diese Art der Aufmerksamkeit, Offenheit und Weisheit in allen Situationen, in denen wir mit unseren Kindern zusammen sind, zu entwickeln. Das ist eine echte Übungsmethode, eine innere Disziplin, eine Form der Meditation, die sowohl Kindern als auch Eltern großen Nutzen bringen kann.
Wenn wir von unseren Kinder lernen wollen, ist es notwendig, dass wir im Umgang mit ihnen aufmerksam sind und innerlich still werden. Diese innere Stille ermöglicht es uns, den ständigen inneren Aufruhr, die Unklarheit und die automatischen Reaktionen unseres Geistes zu durchschauen und so ein größeres Maß an Klarheit, Ruhe und Verständnis zu entwickeln – Eigenschaften, die sich unmittelbar auf unseren Umgang mit unseren Kindern auswirken.
Wie alle Menschen haben auch Eltern ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte, und ebenso wie ihre Kinder haben auch sie ihr eigenes Leben. Das Problem ist, dass die Bedürfnisse der Eltern und ihrer Kinder sehr oft unterschiedlicher Natur sind. Sie sind gleichermaßen berechtigt und wichtig, aber sie sind ganz einfach unterschiedlich und stehen manchmal im Widerspruch zueinander. Durch dieses Aufeinanderprallen unterschiedlicher Bedürfnisse kann sich ein Kampf entwickeln, in dem es darum geht, wer von beiden Seiten „seinen Willen durchsetzt“. Diese Gefahr besteht besonders dann, wenn wir uns als Eltern gestresst, überlastet und erschöpft fühlen.
Statt unsere Bedürfnisse gegen die unserer Kinder auszuspielen, können wir in solchen Augenblicken versuchen, uns der Interdependenz unserer Bedürfnisse bewusst zu werden. Unser Leben ist zutiefst mit dem Leben unserer Kinder verbunden. Wenn es ihnen nicht gut geht, leiden auch wir, und wenn es uns nicht gut geht, leiden sie.
Das bedeutet, dass es allen Beteiligten hilft, wenn wir uns der Bedürfnisse unserer Kinder und unserer eigenen Bedürfnisse bewusst sind, der emotionalen wie der physischen – und wenn wir dem Alter der Kinder angemessene Wege suchen, wie jeder bekommen kann, was er oder sie am meisten braucht. Schon allein diese Sensibilität im Umgang mit uns selbst und unseren Kindern verstärkt unsere Verbindung zueinander. Durch die Qualität unserer Präsenz spüren sie selbst in schwierigen Situationen, dass sie uns wichtig sind und wir für sie sorgen. Treten dann Konflikte zwischen unseren Bedürfnissen und den Bedürfnissen unserer Kinder auf, so sind wir in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die aus dieser Herzensbeziehung hervorgehen und so in stärkerem Maße von Güte und Weisheit getragen sind.
Wir betrachten die Aufgabe, die Eltern übernehmen, als eine heilige Verantwortung. Eltern sind für ihre Kinder Beschützer, Ernährer, Tröster, Lehrer, Gefährten, Vorbilder und Quellen bedingungsloser Liebe und Geborgenheit. Wenn wir in diesem Bewusstsein leben und handeln und wenn wir uns bemühen, in dem Prozess, der sich Augenblick für Augenblick entfaltet, ein gewisses Maß an Achtsamkeit zu entwickeln, dann besteht eine größere Chance, dass die Entscheidungen, die wir als Eltern treffen müssen, aus dem Gewahrsein dessen erwachsen, was der Augenblick erfordert und was dieses Kind in dieser Phase seines Lebens durch sein Wesen und sein Verhalten von uns erbittet. Wenn wir uns dieser Herausforderung stellen, erhöht sich dadurch nicht nur die Chance, dass wir für unsere Kinder das Bestmögliche tun, sondern wir erkennen vielleicht auch zum ersten Mal die tiefsten und besten Kräfte in uns selbst.
Achtsamkeit im Umgang mit Kindern erfordert, dass wir die Herausforderungen erkennen, mit denen wir als Eltern tagtäglich konfrontiert werden, und dass wir versuchen, unsere Aufgaben mit Gewahrsein zu erfüllen. Dieses Gewahrsein kann alle Aspekte der Realität einschließen: unsere Frustration, unsere Unsicherheit und Unzulänglichkeit, unsere Grenzen und sogar unsere dunkelsten und destruktivsten Gefühle sowie die Situationen, in denen wir uns überfordert oder innerlich völlig zerrissen fühlen. Auch und gerade mit diesen problematischen Aspekten unseres Seins sind wir aufgefordert, bewusst und systematisch zu „arbeiten“.
Dies zu verwirklichen ist eine gewaltige Aufgabe. Wir alle sind in vielerlei Hinsicht von den Ereignissen und Umständen unserer eigenen Kindheit geprägt, und wir können sogar in mehr oder weniger starkem Maße Gefangene dieser Geschehnisse sein. Und unsere eigene Kindheit hat nicht nur entscheidenden Einfluss darauf, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen – unsere Lebensgeschichte wirkt sich zwangsläufig auch