Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-Zinn
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Mit den Erwartungen seitens unserer Ursprungsfamilie, der Gesellschaft und der Kultur konfrontiert, uns Normen anzupassen, die häufig unbewusst und nicht ausdrücklich definiert sind, und angesichts der Belastungen, die das Elterndasein mit sich bringt, stellen wir oft fest, dass wir als Eltern – genauso wie im übrigen Leben – mehr oder weniger automatisch funktionieren; dass wir von den Launen unseres Denkens geplagt werden, das normalerweise überaus impulsiv und pausenlos in unbewusste Abläufe verstrickt ist – trotz bester Absichten und trotz tiefer Liebe zu unseren Kindern.
Wenn wir chronisch überlastet sind und dauernd unter Zeitmangel leiden, sind wir wahrscheinlich weit entfernt von der Fülle des gegenwärtigen Augenblicks – der „Blüte des Augenblicks“, wie Thoreau es genannt hat. Meist erscheint uns dieser Augenblick – eigentlich jeder Augenblick – als viel zu gewöhnlich, alltäglich und flüchtig, als dass wir ihm Aufmerksamkeit widmen würden. Wenn wir tatsächlich in solchen geistigen Gewohnheiten gefangen sind, kann dieser ganze ungeprüfte Automatismus sehr leicht zu einem ähnlichen Automatismus in unserer Elternrolle werden. Wir nehmen vielleicht an, dass alles okay ist, was wir tun, solange unsere tiefe Liebe da ist und unser Wunsch, dass es ihnen gut geht. Wir können diese Sichtweise rationalisieren, indem wir uns einreden, Kinder seien unverwüstliche Geschöpfe und die kleinen Dinge, die sie erleben, seien nichts weiter als Kleinigkeiten, die wahrscheinlich keinerlei Folgen für sie haben. Kinder halten eine Menge aus, sagen wir uns. Und ein Stück weit stimmt das auch.
Doch werde ich (jkz) immer wieder durch die Geschichten von Patienten der Stress Reduction Clinic, in der ich arbeite, und durch Teilnehmer der Achtsamkeits-Workshops und -Seminare, die ich in ganz Amerika leite, daran erinnert, dass die Kindheit für viele Menschen eine Zeit offenen oder subtilen Verrats war, weil ein Elternteil (oder beide) unberechenbar war und die Kinder oft völlig unerwartet mit schrecklicher Angst, Gewalt, Verachtung und Gemeinheit konfrontiert wurden. Vieles davon rührt aus der Traumatisierung und Vernachlässigung her, die diese Eltern selbst erlitten haben, und den Süchten und der tiefen Unzufriedenheit, die daraus folgen. In der tragischsten Form wird solch schrecklicher Verrat am Kind manchmal von elterlichen Liebesbeteuerungen begleitet, was die Situation für die betroffenen Kinder noch verrückter und undurchschaubarer macht. Andere Menschen leiden immer noch darunter, dass sie als Kinder vernachlässigt, nicht wahrgenommen und nicht geschätzt worden sind. Dazu kommt, dass durch den ständig zunehmenden Stress in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft und durch das immer stärker werdende Gefühl der Dringlichkeit und der eigenen Unzulänglichkeit auch die Situation in den Familien immer schwieriger geworden ist und das Maß des Erträglichen oft längst überschritten hat – wobei der Druck häufig von Generation zu Generation unerträglicher geworden ist, statt abzunehmen.
Eine Frau, die an einem fünftägigen Achtsamkeits-Seminar teilnahm, sagte:
Ich habe diese Woche während der Meditation bemerkt, dass ich mich so fühle, als würden Teile von mir fehlen, dass ich gewisse Teile von mir gar nicht finden kann, wenn ich still werde und unter die Oberfläche meines Geistes schaue. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet, aber dieses Gefühl hat mich ein wenig geängstigt. Vielleicht werde ich, wenn ich regelmäßig meditiere, herausfinden, was mich davon abhält, ganz zu sein. Doch im Augenblick spüre ich Löcher in meinem Körper oder in meiner Seele, die bewirken, dass ich überall, wohin ich auch gehe, Schutzwälle um mich herum errichte. Ich fühle mich wie ein Schweizer Käse. Das ist schon seit meiner Kindheit so. Ich habe einige Verluste erlitten, als ich noch sehr klein war. Ich glaube, damals habe ich Teile von mir verloren, weil Menschen, die mir wichtig waren, gestorben sind und weil andere Menschen Teile von mir weggenommen haben. Meine Schwester ist gestorben, als ich noch sehr jung war. Und meine Eltern sind daraufhin in eine Art Depression verfallen, die bis zu ihrem eigenen Tod dauerte. Ich glaube, sie haben Teile von mir genommen und sich davon ernährt. Ich empfinde das so. Ich war früher ein sehr lebendiges Kind, das wusste, was es wollte, und ich habe das Gefühl, dass bestimmte Teile von mir einfach weggenommen worden sind. Es scheint mir nicht möglich zu sein, diese Teile wieder zurück zu bekommen. Warum ist mir das nicht möglich? Was ist mit mir geschehen? Ich habe Teile von mir verloren. Während ich heute hier sitze und meditiere, wird mir klar, dass ich noch immer nach diesen Teilen suche und dass ich nicht weiß, wo sie sind. Ich sehe keine Möglichkeit, ganz zu werden, wenn es mir nicht gelingt, die Teile wiederzufinden, die ich damals verloren habe. Meine ganze Familie ist mittlerweile tot. Sie haben all die Teile, die mir fehlen, mitgenommen und sind dann gegangen, und ich sitze jetzt hier mit diesem Schweizer Käse.“
Ein schreckliches Bild, die Eltern hätten dieser Frau bestimmte Bereiche entfernt, um sich davon zu ernähren. Doch so etwas geschieht tatsächlich, und wenn es im Leben eines Kindes früh geschehen ist, leidet es sein ganzes Leben lang darunter.
Zu allem Überfluss fügen Eltern ihren Kindern oft im Namen ihrer Liebe tiefe Verletzungen zu, indem sie sie beispielsweise schlagen, um ihnen eine Lektion zu erteilen, und dabei auch noch Dinge sagen wie:
„Das ist nur zu deinem Besten“, „Das tut mir mehr weh als dir“ oder „Ich tue das nur aus Liebe“ – dieselben Sätze, die sie selbst zu hören bekamen, als sie von ihren Eltern geschlagen wurden, wie die Schweizer Psychologin Alice Miller in Am Anfang war Erziehung gezeigt hat. Im Namen der „Liebe“ werden Kinder hemmungsloser Wut, Verachtung, Intoleranz und Gewalt ausgesetzt. Von Eltern, die sich nicht darüber im Klaren sind oder denen es gleichgültig ist, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf ihre Kinder hat, obwohl sie weder Freunde noch Fremde jemals so behandeln würden. Und solche Dinge geschehen in allen gesellschaftlichen Schichten.
Wir sind der Ansicht, dass automatisches, unbewusstes Verhalten, das sich am Maßstab des geringsten Aufwandes orientiert – ob es sich nun in Form physischer Gewalt manifestiert oder nicht –, bei den betroffenen Kindern tiefe, dauerhafte Schäden und gravierende Entwicklungsstörungen verursachen kann. Gleichzeitig nehmen wir uns als Eltern, wenn wir uns so verhalten, die Möglichkeit, an unserer Aufgabe zu wachsen. Die Folgen derart unbewussten Verhaltens sind häufig eine generelle Traurigkeit, das Gefühl, wichtige Chancen vertan zu haben, Verletztheit, Groll, Vorwürfe, eine Verengung des Selbst- und des Weltbildes – und letztlich Isolation und Entfremdungsgefühle.
Wenn wir jedoch wach bleiben gegenüber den Herausforderungen, mit denen wir als Eltern konfrontiert werden, so kann das alles nicht geschehen. Im Gegenteil, wir können dann alle Situationen im Zusammenleben mit unseren Kindern nutzen, um die Barrieren in unserem Geist und unserem Herzen abzubauen, um tiefer in unser eigenes Inneres zu schauen und um im Kontakt mit unseren Kindern stärker präsent zu sein.
Wir leben in einer Kultur, die die Arbeit von Eltern nicht konsequent würdigt und anerkennt. Es gilt als völlig normal, dass wir hundert Prozent unserer Energie für Karriere oder „Beziehungen“ oder „Selbstfindung“ aufwenden, nicht aber für unsere Kinder. Dahinter steckt die Ansicht, dass man ein Kind nur „verwöhnt“, wenn man ihm verlässlich und offen Aufmerksamkeit schenkt.
Die Gesellschaft als Ganzes und ihre Institutionen und Wertvorstellungen, die den Mikrokosmos unseres individuellen Geistes und seiner Werte sowohl erzeugen als auch spiegeln, tragen erheblich zur Unterminierung der Aufgabe der Eltern bei. Welche Arbeit wird in unserem Land am höchsten bezahlt? Ganz bestimmt nicht die der Tagesmütter, Erzieherinnen oder Lehrer, deren Arbeit eine so wichtige Unterstützung für die Bemühungen der Eltern ist. Wo sind die geeigneten Leitbilder, die unterstützenden Netzwerke, der bezahlte Erziehungsurlaub für junge Eltern, die Möglichkeiten zu Jobsharing und Teilzeitbeschäftigung für Mütter und Väter, die länger als nur ein paar Wochen nach der Geburt bei ihren Kindern zu Hause