Mit Kindern wachsen. Jon Kabat-Zinn
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Doch eben, weil Achtsamkeit uns keine standardisierten Formeln liefert; weil sie etwas mit der Qualität unserer Erfahrung als menschliche Wesen zu tun hat sowie damit, wie weit wir in unserem Leben zur Aufmerksamkeit fähig sind, hat sie einen tatsächlich universalen Anwendungsbereich und ist praktisch in allen Situationen sinnvoll. Jeder von uns hat einen Geist; jeder Mensch hat einen Körper, jeder vermag seine Aufmerksamkeit bewusst auf etwas zu richten; und das Leben eines jeden Menschen entfaltet sich in einer Folge einzelner Augenblicke. Achtsamkeit gibt uns keine Ratschläge, was wir tun sollten, sondern sie lehrt uns, auf unser Inneres zu hören, genau auf das zu achten, was wir selbst für wichtig halten, und unsere Vorstellungen darüber zu erweitern, was in einer bestimmten Situation und unter den verschiedensten Umständen angemessen sein könnte.
Als Eltern und als Menschen und ganz gleich, welchen Problemen wir uns in unserem persönlichen Leben gegenübersehen, sind wir alle zu erstaunlichem Wachstum und zu tiefgehenden Transformationen fähig, wenn wir lernen, unsere inneren Ressourcen zu erkennen, sie zu nutzen und einen Weg zu finden, der unseren persönlichen Werten entspricht und dem, was unser Herz uns sagt. Natürlich erfordert dies Arbeit, aber auch nicht viel mehr Arbeit, als wir ohnehin schon leisten. Vor allem erfordert es eine grundlegende Umorientierung unseres Bewusstseins, so dass wir lernen, auf jene tiefe Weise zu sehen, die aus dem Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks erwächst und das Beste in uns selbst und in unseren Kindern zutage fördert.
Um nun in die Welt der elterlichen Achtsamkeit und davon, was sie von uns fordert und uns zu bieten hat, einzutreten, werden wir eine Geschichte erzählen. Wir werden für einen Augenblick in das Reich der Mythen und der Seele eintauchen. Vielleicht gibt uns das eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, tiefer in die Dinge hineinzuschauen und unserem eigenen Herzen zu vertrauen. Dabei können wir alle Personen in der Geschichte als verschiedene Aspekte unseres eigenen Seins auffassen und Männlichkeit und Weiblichkeit, Schönheit und Hässlichkeit, Güte und Hartherzigkeit als Eigenschaften verstehen, über die wir alle in unterschiedlichem Maße verfügen.
Teil Zwei
Sir Gawain und
die hässliche Dame:
Die Geschichte enthält
den Schlüssel
Sir Gawain und die hässliche Dame
Vor langer Zeit sah sich König Arthur aus Gründen, die in diesem Zusammenhang unwichtig sind, am Weihnachtstage gezwungen, sich um eine gerechte Sache zu kümmern, und er wurde dadurch mit seiner eigenen Ohnmacht konfrontiert. Das Schicksal ereilte ihn, als er dem Ritter von Tarn Wathelan gegenübertrat, einer Gestalt von übermenschlicher Größe, von Kopf bis Fuß in eine schwarze Rüstung gekleidet, auf einem riesigen rotäugigen Schlachtross, das schwarz war wie die tiefste Nacht. Als Arthur sich dem Ritter näherte, um auf der Ebene vor dessen düsterer Burg gegen ihn zu kämpfen, stellte der Ritter den König unter einen Bann, der Arthur selbst und sein Pferd jeglicher Kraft beraubte. Wie ein eisiger Schatten überfiel ihn eine gewaltige Furcht, die umso schrecklicher war, als sie sich weder auf den Ritter noch auf irgendetwas anderes in dieser Welt bezog. Es war ein schwarzer Schrecken der Seele, der sich zwischen Arthur und den Himmel legte und ihm jede Kraft nahm, so dass sein Schwertarm und sein Schildarm kraftlos niedersanken und er sich nicht mehr bewegen konnte.
„Was … verlangst du … von mir?“ keuchte Arthur.
Statt ihn zu töten oder ihn in ein Verlies zu werfen und ihn zusammen mit anderen tapferen Rittern zugrunde gehen zu lassen und dann mit magischer Hilfe sein Reich in Besitz zu nehmen, bot ihm der Ritter von Tarn Wathelan an, ihm Leben und Freiheit zu schenken, wenn er ihm nach sieben Tagen, am Neujahrstag, die Frage beantworten könne: „Was begehren Frauen am meisten?“
Arthur, von Scham und Wut erfüllt, sah keine andere Möglichkeit, als in den Handel einzuwilligen. Dann ritt er davon. Während der ganzen Woche zog er durch das Land und stellte jeder Frau, der er begegnete, ob Gänsemagd, Schankwirtin oder adlige Dame, diese Frage. Alle Antworten, die er erhielt, schrieb er eifrig auf, doch war ihm die ganze Zeit über klar, dass keine von ihnen die richtige sein konnte.
Schweren Herzens brach er schließlich am Morgen des Neujahrstags zur Burg des Ritters auf. Die Chance, sein Leben zu retten, hatte er offensichtlich vertan, und ihm war klar, dass er nun von der Hand des Ritters sterben würde.
Die Berge wirkten noch düsterer als beim ersten Mal, und es wehte ein rauer Wind. Der Weg erschien ihm viel länger und schwieriger, und doch näherte er sich seinem Ziel viel zu schnell.
Als Arthur mit gesenktem Haupt, nicht mehr weit von der Burg entfernt, durch ein Dickicht ritt, hörte er eine angenehm sanfte Frauenstimme: „Seid gegrüßt, König Arthur. Möge Gott Euch schützen und erhalten.“
Er wandte sich um und sah zwischen den Bäumen auf einem Erdhügel neben dem Weg eine Frau in einem leuchtend scharlachroten Umhang sitzen. Als der König sie erblickte, durchfuhr ihn ein Schock. Er hatte erwartet, dass die sanfte Stimme einer wunderschönen jungen Frau gehörte, doch vor ihm saß die scheußlichste Kreatur, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht war so abgrundtief hässlich, dass er es kaum anschauen konnte, und ihre lange, mit Warzen bedeckte Nase bog sich nach unten, das lange, haarige Kinn nach oben. Das einzige Auge der Frau lag tief unter einer wulstig vorspringenden Augenbraue, und ihr Mund war nichts weiter als ein unförmiges Loch. Ihr Haar hing in grauen, verfilzten Strähnen vom Kopf, und ihre Hände glichen braunen Klauen. Einen krassen Gegensatz zu dieser unglaublichen Hässlichkeit bildeten die Juwelen, die an ihren Fingern funkelten, denn diese waren so schön und kostbar, dass sie selbst der Königin zur Ehre gereicht hätten.
Arthur stand völlig fassungslos da, bis die Frau ihn daran erinnerte, wie ein Ritter sich in Gegenwart einer Dame zu benehmen hatte. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass sie über seine Frage Bescheid wusste und auch darüber, dass er trotz der vielen Antworten auf die Frage, was Frauen am meisten begehren, von keiner die richtige Antwort erhalten hatte. Sie teilte dem erstaunten König mit, dass nur sie allein die richtige Antwort kenne und dass sie ihm diese nur verraten werde, wenn er ihr einen heiligen Eid schwöre, ihr als Lohn dafür zu geben, was immer sie verlange. Er willigte in diesen Handel ein, und sie bedeutete ihm daraufhin, sein Ohr zu ihren Lippen niederzubeugen. Dann flüsterte sie ihm die Antwort ins Ohr.
Sobald Arthur die Antwort der Frau gehört hatte, wusste er in seinem tiefsten Inneren, dass