Das achtsame Gehirn. Daniel Siegel
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Als wir aus der Stille auftauchten, schien sich ein seltsames Phänomen zu ereignen, von dem mir nachher berichtet wurde, dass es häufig vorkomme, nicht nur bei Wissenschaftlern: Es war eine Art Rausch zu spüren, eine gewisse Partyatmosphäre, sobald wir nach unserem einsamen, stillen Aufenthalt wieder sprechen durften. Aber als wir später in die Stille zurückkehrten, empfand ich eine überraschende Erleichterung, und ein offenes, weites Empfinden meines Geistes kam zu mir zurück. Ich konnte fühlen, wie sich mein Bewusstsein klärte, als es mir nicht erlaubt war, mit irgendjemandem zu sprechen. Jener Mangel an Kontakt befreite meinen Geist, um wieder offen zu sein und sich mit sich selbst zu verbinden. Es gibt eine gewisse Klarheit, die aus der Stille kommt.
Dennoch war ich, als ich an jenem Abend zum ersten Mal in dieser Woche zu Hause anrief, froh, mit meiner Frau und meinen Kindern sprechen zu können. Und dennoch konnte mein Geist, obwohl die Dinge zu Hause gut liefen, nicht aufhören, über unsere Unterhaltungen, die Pläne, den Tonfall meiner Familienmitglieder und die Dinge, die es zu tun gab, nachzudenken. Zum ersten Mal während dieser Woche fiel es mir schwer, einzuschlafen, und ich wachte mehrmals auf und dachte einfach über verschiedene Dinge nach, die die Woche über aus meinem Bewusstsein verschwunden waren. Der Sog meines normalen Lebens machte mir klar, dass mir gar nicht bewusst gewesen war, um wie vieles ruhiger mein Geist geworden ist.
Ich hatte die ganze Woche lang problemlos heißen Tee getrunken. Nachdem ich zu Hause angerufen hatte, aus der Achtsamkeit ausgestiegen und in den Rummel und die Hektik des „zivilen“ Lebens zurückgekehrt war, verbrannte ich mir die Zunge. Ich hatte an etwas anderes gedacht, statt mir des Tees bewusst zu sein, während ich ihn trank. Ohne Achtsamkeit können wir uns verletzen und verbrennen.
Während der kurzen wissenschaftlichen Diskussionen über unsere Ideen und Erfahrungen des letzten Abends dieser Woche konnte ich meine Gedanken nicht ankurbeln. Was mir auffiel, war, wie vollkommen begrifflich sich die Unterhaltungen anfühlten, und ich war einfach nicht in der Gemütsverfassung, mich wieder auf diese Weise zu engagieren. Ich begrüßte die Rückkehr zum Schweigen an jenem letzten Abend. Auf der Fahrt zum Flughafen am nächsten Tag, bei der ich mich in Gesellschaft zweier Freunde befand, hatte ich jedoch das Gefühl, dass wir tief, langsam und ungestört in unsere Erfahrungen hineingehen konnten. Ich empfand es als befriedigend, zu versuchen, die Erfahrungen der Woche in Worte zu fassen und sie den anderen mitzuteilen. Ich sagte, dass ich das Gefühl gehabt habe, als ob ein Teil meines Geistes, der sich gewöhnlich mit anderen verbindet, von der Mitte bis zum Ende der Woche seinen Fokus auf die einzig verfügbare Person gerichtet hatte: mich! Als ich meine Erfahrung beschrieb, konnte ich fühlen, dass sie sich auf mich in einer Weise einstimmten, auf die ich mich, meinem Gefühl nach, während der Woche auf mich selbst eingestimmt hatte. Mein wissenschaftlicher Geist stellte sich vor, dass es die Beteiligung des sozialen Schaltkreises im Gehirn war, die es uns ermöglicht, miteinander in Resonanz zu treten, die sich jetzt auf mich konzentriert hatte. Diese Resonanz von innerer und gegenseitiger Einstimmung fühlte sich zutiefst befriedigend an.
Kapitel 4
Leiden und die Ströme des Gewahrseins
Einhundertfünfzig Spezialisten, die meisten von ihnen Kliniker, hatten sich im Mount Madonna Center in den Bergen versammelt, von denen man einen Blick auf die Bucht von Monterey in Nordkalifornien hatte, um von Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli den Ansatz der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR) zu erlernen, den diese seit mehr als fünfundzwanzig Jahren praktizierten (Kabat-Zinn 1990; Santorelli 1999). Durch eine Reihe von Studien sind die positiven Ergebnisse belegt, über die wir an früherer Stelle berichtet haben: verbesserte Immunfunktion, ein verbessertes Funktionieren des Herzens sowie verbesserte Funktionen im psychischen und zwischenmenschlichen Bereich – all das wird mit Achtsamkeitspraktiken in Verbindung gebracht (Davidson et al. 2003; Kabat-Zinn 2003). Dies ist mein intensives Eintauchen in die Achtsamkeit: zwei einwöchige Retreats in einem Monat. Der Retreat der schweigenden Wissenschaftler war ein Eintauchen in eine klassische Einsichtsmeditationserfahrung. Früh aufwachen, sitzen, gehen, sitzen, gehen – all das wurde schweigend getan, ohne mit anderen auf irgendeine Weise in Kontakt zu treten.
Diese Woche ist eher ein Studienpraktikum, wo wir meistenteils mit anderen sprechen dürfen – mit Ausnahme der sechsunddreißig Stunden, die morgen früh beginnen. Diese Worte, die Sie jetzt lesen, gehen aus meiner linken Gehirnhälfte hervor, die weiß, dass sie kurz davor steht, die nächsten eineinhalb Tage zur Untätigkeit gezwungen zu sein. Außer dass wir nicht sprechen dürfen, hat man uns auch davon abgeraten, zu schreiben und zu lesen und – auch das! – miteinander während dieser Zeit irgendwie in Kontakt zu treten.
Rumis Gedicht „Das Gasthaus“ hängt an der Wand als wunderschöne Formulierung des Gefühls, das für mich den Kern der Achtsamkeit bildet, während sich diese Tage entfalten. Das Gedicht beginnt mit dem Satz: „Dieses Menschsein ist ein Gasthaus“, und legt uns nahe, alle unverhofften Besucher in unser Haus einzuladen und sie alle willkommen zu heißen und zu bewirten. Jeden Morgen lese ich seine Worte und gehe den Weg zum Versammlungssaal, vorbei an Rehen und Kiefern. Wir begegnen auf dieser Reise, die wir das Leben nennen, vielen Gästen, drinnen wie draußen.
In Zusammenhang mit dem Schweigeretreat haben wir über die Vision von YODAs SOCKe gesprochen, die Vorstellung, dass „man beobachtet, um sich von den Automatismen abzukoppeln“; dass das Beobachten einen befähigt, sich weit genug zu entfernen, um jedem mentalen Prozess an der Tür seines Geistes „lachend“ begegnen zu können. Die „Socke“ steht für die Ausgeglichenheit von Empfindung, Beobachtung und Konzeptualisierung, die zu einem achtsamen Empfinden des nichtbegrifflichen Wissens führt (Abbildung 4.1).
Wenn wir das Aufsteigen mentaler Prozesse bekämpfen, dann können wir in einen massiven inneren Kampf geraten, der mentales Leiden erzeugt. Darin liegt die Paradoxie des achtsamen Gewahrseins: In seinem Kern ist es voller Akzeptanz. Ohne uns aktiv zu bemühen, ein Ergebnis zu erreichen, befreit es uns vom Leiden. Im Folgenden finden Sie einige Beispiele, die diese grundlegende Idee veranschaulichen.
Abbildung 4.1
Die vier Ströme des Gewahrseins.
Auf einem Fuß balancieren
Wir machten eine Reihe von Übungen, die zeigten, wie wichtig das achtsame Gewahrsein sein kann. Ich stand bei den Yogaübungen nahezu in der Mitte des Raumes. Unser Lehrer gab uns die Anweisung, auf einem Fuß zu balancieren. Da ich genau neben ihm stand, versuchte ich, sein Tun zu spiegeln, fand es jedoch sehr schwierig, mein Gleichgewicht zu halten. Ich fühlte mich seltsam und war überrascht, denn am Tag zuvor hatte ich dieselbe Übung während eines Vortrags, als ich mich recken und strecken musste, aus eigenem Antrieb gemacht und das Asana über lange Zeit gehalten. Worin bestand also der Unterschied?
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