MIND. Daniel Siegel
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Energie, sagen Physiker, wird am besten beschrieben als ein Potenzial, etwas zu tun. Dieses Potenzial wird gemessen als die Bewegung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit entlang eines Spektrums von Wahrscheinlichkeiten, was manchmal als Wellenfunktion oder Wahrscheinlichkeitsverteilungskurve bezeichnet wird. Wir erfahren diesen Energiefluss nicht als eine irgendwie magische, nicht wissenschaftliche Sache, sondern als fundamental für die Welt, in der wir alle leben. Wir mögen die Energiefelder, die uns umgeben, nicht sehen, wie es der berühmte Wissenschaftler Michael Faraday vor zwei Jahrhunderten bei seiner Entdeckung der Elektrolyse und des Elektromagnetismus beschrieb, aber sie sind real. Wir mögen desgleichen auch oftmals die Ursprünge der Energie als ein Meer des Möglichen nicht spüren, aber wir erfahren in unserem Gewahrsein die Herausbildung des Möglichen zum Wirklichen, Tatsächlichen. Das ist der Energiefluss, die Veränderung dieser Wahrscheinlichkeitsfunktion. Das Licht ist aus, nun ist das Licht an. Der Raum ist still, nun sprechen Sie. Sie sehen jemanden auf sich zukommen, einen lieben Freund, und werden Zeuge einer warmen Willkommensumarmung. Das ist die Transformation von Möglichkeit in Wirklichkeit. Es ist der Energiefluss, den wir jeden Moment unseres Lebens erfahren.
Einiges an diesem eintretenden Energiefluss hat symbolischen Wert mit einer Bedeutung jenseits der Energiemuster selbst. Ich weiß von der Kognitionswissenschaft, dass solch eine symbolische Bedeutung „Information“ genannt werden könnte. Ich schreibe oder spreche Kauderwelsch, und es könnte keine Bedeutung haben. Aber ich schreibe oder sage, „Golden Gate Bridge“, und voilà, Energie besitzt Information – sie steht für etwas anderes als die reine Form von Energie, die sich aus einem Meer an Möglichkeiten in diese eine Wirklichkeit manifestiert hat. Nun sage ich „Eiffelturm“, und aus dem weiten Meer fast unendlicher Potenzialitäten taucht dieses eine Energiemuster auf, eine Information, die sich als sprachliches Symbol dieser architektonischen Struktur in Paris manifestiert.
Doch nicht alle Energiemuster enthalten Informationen. Daher könnte das Element, das Gehirn und Beziehungen gemeinsam haben, Energie selbst sein; oder, um vollständig zu sein, jenes gemeinsame Element könnte einfach „Energie und Information“ genannt werden. Wenn sie danach gefragt werden, legen viele Wissenschaftler dar, dass alle Informationen von Energiewellen oder Energiemustern mitgeführt werden. Andere Wissenschaftler sehen das Universum als grundlegend aus Informationen bestehend an, wobei Energiemuster aus jener Basis der Realität auftauchen, ein aus Informationen konstruiertes Universum. Dergestalt drücken sich Informationen selbst in jeder Sichtweise mittels Energieumwandlungen aus, die Entfaltung des Potenzials, etwas zu tun, in ein reales Etwas. Das ist Energie in einer Nussschale. Beide Begriffe, Energie und Information, könnten eine brauchbare Grundlage der Betrachtung darstellen, vor allem dann, wenn beide Perspektiven zu einem einheitlichen Konzept zusammengefügt werden.
Diese Muster oder Wellen entstehen, wenn sich Energie in der Zeit verändert, wenn sie fließt, sich jeder Augenblick in der Gegenwart entfaltet. Für unsere Erfahrung des geistigen Lebens, das sich ständig entwickelt und verändert, scheint der Begriff des Flusses [bzw. des Fließens, A.d.Ü.] gut zu passen. Selbst wenn der Vorschlag einiger Physiker, dass Zeit kein einheitlicher Prozess sei, wie wir ihn uns vorstellen, sich als wahr herausstellt, ist jene Zeit keine in sich verschiedene Entität in der Welt, die fließt, als vielmehr ein mentales Konstrukt unseres Gewahrseins der Veränderung; alle Wissenschaftler stimmen darin überein, dass die Realität von Veränderung erfüllt ist, wenn nicht durch die Zeit, dann durch den Raum oder durch die Wahrscheinlichkeitskurve. Veränderung entlang der Wahrscheinlichkeitskurve meint die Bewegung der Energie entlang des Spektrums zwischen offenem Potenzial und Realisation als Tatsächlichkeit. Daher können wir den Begriff Fluss verwenden, um die Veränderung durch die Zeit oder den Raum oder die Wahrscheinlichkeit oder vielleicht irgendeinen anderen Aspekt der Realität zu kennzeichnen. Fluss bedeutet Veränderung. Wir können die Wendung „durch die Zeit“ wie in „Fluss der Zeit“ verwenden, um einfach diesen Fluss nachzuvollziehen, die verschiedenen Dimensionen der Veränderung in unserer gelebten Wirklichkeit. Und daher könnte der grundlegende Ausdruck für dieses vorgeschlagene zentrale Element des Geistes „Energie- und Informationsfluss“ sein.
Ich hatte damals, wie heute noch, den Eindruck, dass man vorschlagen könnte, dass der Energie- und Informationsfluss das zentrale Element eines Systems ist, das der Ursprung des Geistes ist.
Aber was ist dieses System, aus dem der Geist entsteht? Was ist es, was sind seine Grenzen und was sind seine Eigenschaften? Das Grundelement dieses Systems könnte Energie- und Informationsfluss sein – doch wo taucht dieser auf?
Den Strand entlanggehend und die Wellen beobachtend, schien es mir, dass das Ufer sowohl vom Sand als auch vom Meer gebildet wurde. Die entstehende Küstenlinie ergab sich aufgrund des Sandes und des Meeres, nicht aufgrund eines der beiden. Die Küste war sowohl Strand als auch Meer.
Könnte der Geist, irgendwie, sowohl innerhalb als auch dazwischen sein?
Energie und Informationen fließen durch den ganzen Körper, nicht nur durch das Gehirn. Energie und Informationen fließen auch zwischen einer Person und anderen Menschen in Kommunikationsmustern und in Verbindungen mit der weiteren Umgebung, in der jene Person lebt – wie diese von mir an Sie durch das Buch übermittelten Worte. Wir können sagen, dass der Energie- und Informationsfluss zwischen unserem Körper und den nicht körperhaften Komponenten der Welt stattfindet – die Welt der „anderen“ und unserer Umgebung – genauso wie in uns selbst – innerhalb unseres Körpers, einschließlich des Gehirnes. Ich setze das Wort andere in Anführungszeichen, um uns daran zu erinnern, dass dies lediglich ein Wort ist – die Vorstellung eines Selbst respektive eines Ich versus den anderen müssen wir auf unserem Erkundungsweg vor unserem geistigen Auge behalten.
Aber wenn sich herausstellen sollte, dass Energie- und Informationsfluss ein System bilden, das den Geist entstehen lässt, was könnte der Geist tatsächlich sein? Gefühle, Gedanken und Erinnerungen, könnten Sie sagen. Ja, jene sind wichtige, richtige Beschreibungen des Inhaltes und der Aktivitäten des Geistes. Dies sind Arten und Weisen, mit denen wir die subjektive Realität des mentalen Lebens beschreiben. Viele Disziplinen bieten derart bedeutende Beschreibungen mentaler Prozesse an. Doch was sind diese wirklich? Erstaunlicherweise weiß es niemand genau. Auf der Ebene der Neurowissenschaft versteht niemand – wie wir erwähnt haben –, wie neuronales Feuern die subjektiv wahrgenommene Erfahrung einer Idee, einer Erinnerung oder eine Emotion erzeugen könnte. Wir wissen es einfach nicht.
Jahre später machten der Philosoph und Physiker Michel Bitbol und ich einen langen Spaziergang während eines einwöchigen Zusammentreffens einer Gruppe von rund 150 Physikern, und wir stimmten darin überein, dass die Subjektivität eine „Prime“ [bzw. eine „Primrealität“, A.d.Ü.] des Geistes sein könnte – etwas, das auf nichts anderes reduziert werden kann. Ich konnte dann sehen, dass subjektive Erfahrung als etwas Wichtiges aus dem Energie- und Informationsfluss entstehen könnte. Wie das geschieht, wissen wir einfach nicht. Aber als etwas Wichtiges kann es nicht einfach auf etwas anderes reduziert werden, oder womöglich sogar nur auf einen Ort wie dem Gehirn und seinem Feuern. Aber zumindest eine mögliche Verbindung zwischen subjektiver Erfahrung und Energie- und Informationsfluss identifiziert zu haben, verschafft uns einen Ausgangspunkt, um unser Verständnis des Geistes zu vertiefen. Den Energie- und Informationsfluss als einen grundlegenden Teil eines Systems zu betrachten, das den Geist entstehen lässt, einschließlich seiner subjektiven lebendigen Beschaffenheit, scheint ein angemessener Ausgangspunkt zu sein, um unser Verständnis zu vertiefen.
Da wir desgleichen nicht verstehen, wie das Gewahrsein subjektiver Erfahrung aus dem neuronalen Feuern entstehen