Ein Quantum Zeit. Volkmar Jesch
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»Grämen Sie sich nicht so sehr wegen des Autounfalls. Der Wolkenbruch war richtig stark, da kann ein Fahrzeug schon einmal ins Schleudern kommen. Auch wenn Sie Ihr Auto sehr gemocht haben, es wird ein neues geben.« Und er zog auch gleich ein Resümee seines Einwurfs: »Wer weiß, wofür die plötzliche Wendung in Ihrem Leben gut ist.«
Sie blickte erstaunt auf, drehte ihren Kopf nach links und schaute ihn verdutzt an. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ein Mann neben ihr an einem Tisch saß. Er war älter als sie, in den besten Jahren, würde man wohl sagen. Eine sympathische Erscheinung. Nur woher wusste er von ihrem Unfall? Warum war ihm bekannt, dass sie mit ihrem Auto ins Schleudern gekommen war? Und woher, um alles in der Welt, wusste er, dass sie ihr kleines Auto so sehr geliebt hatte. Er ließ ihr keine Zeit, zu antworten, fuhr fort, als ob er auch diese Gedanken erraten hatte.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie beobachtet habe und jetzt so unvermittelt anspreche. Nachdem Sie sich hin- und hergewälzt haben und dann in ihrer Mimik mal Zufriedenheit, Erstaunen und auch Zorn zu lesen waren, nahm ich an, dass Sie erst kürzlich angekommen sind und die Gründe hierfür analysieren. Ich dachte zunächst, Sie seien beim Skifahren gestürzt, wie eigentlich alle Patienten hier, zumal ich ihre leichten Hin- und Herbewegungen als rhythmisches Wedeln beim Skifahren interpretiert hatte. Nachdem Sie mit trauriger Miene die Konturen eines Fahrzeuges in die Luft gemalt haben, kam mir in den Sinn, dass Sie die Drehbewegungen vielleicht mit einem Auto gemacht haben, schlichtweg geschleudert sind. Ich kam zu dem wahrscheinlichen Schluss, dass Sie einen Autounfall hatten. Autounfall-Opfer werden hier selten eingeliefert. Ich hoffe, dass Ihre Verletzungen nicht so schlimm sind.«
Sie war zunächst perplex über seine gute Beobachtungsgabe, fing sich aber gleich wieder. Seine Stimme war äußerst angenehm, und sie war froh, dass sie mit jemandem reden konnte.
»Ach nein, es sind nur ein paar Schrammen an der Schulter«, antwortet sie. »Das ist nicht so schlimm.«
»Na, dann werden Sie bald wieder entlassen werden können«, murmelte er, hoffte aber jetzt schon das Gegenteil.
»Ja, das erwarte ich auch«, sagte sie. Der Himmel war jetzt glutrot. Obwohl es ein wenig kühler geworden war, war ihr Bett immer noch schön warm und weich. Die Terrassenbeleuchtung ging an.
»Wir hatten heute Morgen viel Schneefall und immer wieder nur kurze Phasen, in denen die Sonne schien. Mittags sind die Wolken aufgerissen, und wir können einen wundervollen Sonnenuntergang beobachten, bevor es bestimmt gleich wieder zu schneien anfängt.« Seine sonore Stimme gefiel ihr, und es tat ihr gut, über belanglose Dinge zu reden. Er fuhr fort: »Für die nächsten Tage ist noch mehr Schnee angesagt. In der ganzen Alpenregion soll in den nächsten Tagen sehr viel Neuschnee fallen.«
»Da werden sich meine Freunde aber freuen«, sagte sie. »Da sind einige Experten dabei, die das Tiefschneefahren lieben. Und im Neuschnee lässt sich besonders gut wedeln.«
»Na ja«, warf er ein. »Der Schnee wird wohl eher unwetterartig herunterkommen. Die Wetterlage ist nicht gerade konstant für die nächsten Tage. Sehen Sie es positiv, und freuen Sie sich, dass Sie hier so gut untergebracht sind und nicht unbedingt nach draußen müssen.«
Doch die Erinnerung an den Unfall war zu frisch. Sie war immer noch in ihren trüben Gedanken gefangen, und so hörte sie sich auf einmal sagen:
»Ich kann mich nicht so richtig freuen. Viel schlimmer als die paar Schrammen ist es, dass mein Auto kaputt ist. Ich habe gestern Abend auch wirklich Pech gehabt. Ich bin noch nicht einmal so weit gekommen, wie die anderen, die sich erst beim Skifahren verletzen. Ich wurde schon auf dem Weg dahin in einen Unfall verwickelt. Ich bin schon ein Unglücksrabe!«
»Denken Sie nicht so«, warf er ein, »bei diesem Wolkenbruch war es nicht unwahrscheinlich, dass ein Unfall passiert. Seien Sie froh, dass er so glimpflich abgelaufen ist, wenn Sie schon einen Unfall erleben mussten.«
Doch so einfach konnte sie ihren Gedankengang nicht verlassen: »Ich gebe es ja zu: Ich hadere mit meinem Schicksal.« Sie erwartete seinen Zuspruch. In ihr keimte der Wunsch, dass er ihren Schicksalsschlag bestätigte. Das hätte ihr gutgetan. Doch es kam anders.
Schicksal
Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.
Aristoteles,
griechischer Philosoph
Ihm war das zu viel der Wortkrämereien, zu viel der unheilschwangeren Wortwendungen, und so begann er, ihr seine Sicht der Dinge darzulegen:
»Schicksal! Welch ein wunderbarer Begriff! So geheimnisvoll, rätselhaft, so unerklärlich und mysteriös. Und doch außerordentlich unpassend für diesen Vorgang. Nein, für jeden Vorgang. Mehr noch, völlig fehl am Platze.
Das Geschehene mit dem Begriff ›Schicksal‹ in Verbindung zu bringen, würde bedeuten, den Unfall entweder als einen nicht beeinflussbaren Vorgang darzustellen oder auf eine höhere Macht zurückzuführen – höhere Macht verstanden als eine Institution, die unsere Geschicke lenken oder auch nur Einfluss nehmen kann. Beides wäre grundlegend falsch. Der Gang unserer Welt ist nicht vorbestimmt. Das Geschehene war beeinflussbar. Es gibt auch keine höheren Mächte in Gestalt bestimmter Personen. Gott an dieser Stelle einmal ausgenommen; darüber zu urteilen, fehlt mir die Kompetenz.« Er machte eine kurze Pause. »Auch Pech gibt es nicht. Es gibt nur Gesetzmäßigkeiten.«
Ihr Widerspruch regte sich. Was bildete sich der Mann eigentlich ein? Ihr gefiel der Gedanke, dass das Schicksal sie ereilt hatte. Die Krankenschwester hatte ihr gesagt, dass jemand von hinten auf ihr Fahrzeug aufgefahren sei. Dafür konnte sie nun wahrlich nichts. Nur weil sie eine Frau war, sollte sie an dem Unfall schuld sein? Sollte sie ihrem Besucher überhaupt antworten, sich auf ein weiteres Gespräch mit ihm einlassen? Aber sie hatte lange über ihre Situation nachgegrübelt, jetzt musste das Geschehene mit Worten verarbeitet werden. Und so hörte sie sich sagen, fast beschwörend:
»Für mich war der Unfall ein nicht beeinflussbarer Vorgang. Ich konnte ihn nicht verhindern. Es war ein Auffahrunfall.« Bewusst simplifizierte sie den Vorgang auch sprachlich: »Mir ist jemand von hinten in den Kofferraum gerauscht. Das war echt Pech. Manchmal ereilt einen so ein Missgeschick. Zufällig bin ich vor meinem Unfallgegner gefahren, als der nicht aufgepasst hat.«
Schnell kam die Antwort ihres Gegenüber: »Da gibt es deutlich andere Meinungen.«
Er war jetzt in seinem Element. »Wir halten oftmals etwas für zufällig, wenn zwei verschiedene Kausalketten aufeinandertreffen und wir bis zum Eintritt des Ereignisses nur die eine Kette verfolgt haben. Der große Philosoph Voltaire meinte dazu: ›Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts in unserer Umwelt kann ohne Ursache existieren.‹«
Sie musste ihn unterbrechen. Der gute Mann wollte ihr tatsächlich eine Mitschuld an dem Unfall einreden! »Stopp! Nur weil ich Auto gefahren bin, bin ich doch nicht verantwortlich für den Unfall.«
»Oh