Ein Quantum Zeit. Volkmar Jesch
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Ihre Eltern mussten sich zum richtigen Zeitpunkt treffen und lieben lernen und Ihre Mutter bis zu ihrer Geburt überleben, das Gleiche gilt für Ihre Großeltern, Ihre Urgroßeltern und so weiter.« Er erhob seine Stimme: »Wissen Sie, wie viele Menschen seit der Zeitenwende überleben mussten, damit Sie entstehen konnten?«
Er beantwortete die Frage selbst: »Wenn man der Einfachheit halber davon ausgeht, dass die Frauen durchschnittlich mit 25 Jahren Kinder bekommen, dann wären das bei 2.000 Jahren 80 Generationen. Da sich die Zahl Ihrer Vorfahren in jeder Generation verdoppelt hat, nämlich zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern und so weiter, dann wären das 280 Vorfahren. Rein rechnerisch etwas mehr als eine Quadrillion Menschen.
So viele Menschen kann es gar nicht gegeben haben, werden Sie denken und haben natürlich recht. Seit Christi Geburt haben ungefähr 100 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt.3 Tatsächlich sind ganz viele Ihrer Vorfahren untereinander eine Beziehung eingegangen. Aufgrund der dünnen Besiedlung auf dem Lande wurde früher maximal ins nächste Dorf geheiratet. Trotzdem gibt es weit mehr Menschen als Vorlauf für unsere Existenz, als wir uns gemeinhin vorstellen. Zudem tummelten sich Millionen Jahre lang andere Lebewesen bis hin zum Einzeller auf der Erde, noch bevor es Menschen gab. Alle gehören sie zu unseren Vorfahren. Wäre nur einer in dieser unendlich langen Kette zu früh gestorben, um einen Nachkommen – einen Ihrer Ahnen – zu haben, gäbe es Sie nicht.«
Er stellte ihr Weltbild gerade gründlich auf den Kopf. Ihr heutiges Dasein von so vielen Vorgängen in der Vergangenheit abhängig zu machen, war ihr noch nie in den Sinn gekommen.
»Vielleicht war auch Ihr ›Unfall‹ entscheidend für Ihre Zukunft«, fuhr er fort. »Wissen Sie es? Vielleicht es ist das Beste, was Ihnen passieren konnte, weil Sie damit jetzt hier sind und nicht an einer anderen Stelle irgendwo auf der Erde, wo Ihnen vielleicht große Gefahr droht. Und vielleicht treffen Sie aufgrund des Unfalls auch eine Entscheidung erst in der Zukunft, sagen wir bei der Fahrt in den nächsten Urlaub, die Ihnen dann das Leben rettet.«
»Oder es ist genau umgekehrt«, warf sie ein. »Morgen brennt das Krankenhaus ab, und ich komme dabei um.« Das war zwar eine sarkastische Bemerkung, aber eigentlich war sie ihm dankbar dafür, dass er sie aus ihrer Lethargie geholt hatte und auf andere Gedanken brachte.
»Zwar unwahrscheinlich, aber im Prinzip völlig richtig«, antwortete er. »Wahrscheinlichkeit ist ein Begriff, der mit der Zukunft verknüpft ist. Dass in jedem Moment das wahrscheinlichste Ereignis der Zukunft eintritt, bedeutet selbstredend nicht, dass es nur eine wahrscheinliche Möglichkeit gibt, was im nächsten Moment passieren kann. Es kann auch mehrere, ja ganz viele, gleich wahrscheinliche Möglichkeiten geben.
Bis kurz vor Eintritt eines Ereignisses waren verschiedene Möglichkeiten des Geschehensablaufes wahrscheinlich, danach nicht mehr. Wenn etwas passiert, endet die Wahrscheinlichkeit und reißt die gerade noch bestehenden, verschiedenen Möglichkeiten eines andersartigen Geschehensablaufes in den Abgrund.«
Er merkte, wie sie zusammenzuckte. Vielleicht war seine Aussage doch etwas zu theatralisch. Er präzisierte sie daher etwas nüchterner: »Wahrscheinlichkeit ist ein mathematisches Modell dafür, wie oft jedes Ergebnis anteilig eintreten sollte, wenn man den Vorgang beliebig oft unabhängig und unter gleichen Bedingungen wiederholen könnte. Wahrscheinlichkeit kann man berechnen.«
»Den Zufall also nicht?«, wandte sie ein.
»Nein, den konkreten Vorgang, der von einem Zufall ausgelöst wird, kann man nicht berechnen. Denn von einem zufälligen Ereignis spricht man, wenn die Möglichkeit besteht, dass ein Vorgang zu mehreren Ereignissen führen kann, niemand aber vorhersagen kann, welches Ereignis eintritt und bei Wiederholen des Vorgangs mit gleichen Ausgangsbedingungen ein völlig anderes oder vielleicht auch überhaupt kein Ereignis eintritt.«
Irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, sie und ihr Gegenüber diskutierten nicht auf der gleichen Ebene. Ihr Widerspruchsgeist war aber noch nicht erloschen, und sie beschloss, zum Gegenangriff überzugehen.
»Ok, dann drehen wir die Zeit zurück und versetzen mich in den Zustand kurz vor den Unfall. Gleiche Ausgangsbedingungen. Dann werden wir sehen, ob etwas anderes passiert, ob der Unfall Zufall war oder ob das Geschehen den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit gehorcht.«
Ihr war ganz plötzlich dieser Einfall gekommen. Warum, wurde ihr erst später klar, als sie nochmals über das Gespräch nachdachte. Seit jeher hatte sie das Thema »Zeit« interessiert. Und sie war schon immer fasziniert von Zeitreisen, sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit, nicht erst, nachdem ihre Eltern viel zu früh gestorben waren und sie gerne in der Zeit zurückgesprungen wäre, um nochmals mit ihnen zu sprechen. Sie hätte ihnen noch so viel zu sagen gehabt.
Irgendwann in ihrer frühesten Jugend hatte sie »Die Zeitmaschine« im Fernsehen gesehen, den wundervollen Film, der Anfang der 60er-Jahre mit Rod Taylor in der Hauptrolle gedreht worden war. Darin konnte man in einer Zeitmaschine Platz nehmen und mit einer Hebelbewegung in der Zeit vorwärts- aber auch rückwärtsreisen. Mit der beschleunigt ablaufenden Zeit entwickelte sich die Welt um die Apparatur weiter, während man selbst mit der Maschine am gleichen Ort blieb. Die blinkenden Lichter der Anzeigen, die rotierende Kupferscheibe an der Rückseite der Maschine und der mit rotem Plüsch bezogene Sessel hatten der Maschine das würdige Dekor verliehen, um damit der Zeitlinie entlangzusausen.4
Eine sehr romantische Vorstellung einer Reise in der Zeit, auch wenn sich die Zukunft in dem Film alles andere als verlockend gezeigt hatte. Vermutlich waren die Geschichte und ihre filmische Umsetzung der Auslöser für ihre Faszination für Zeitreisen. Auch eine Folge der US-amerikanischen Serie »The Big Bang Theory« war dem Thema der Zeitmaschinen gewidmet gewesen. Sie hatte sie zufällig gesehen. Die eingesetzte Zeitmaschine hatte der Apparatur aus dem Film in den 60er-Jahren sehr ähnlich gesehen.
Oft hatte sie über die märchenhaften Möglichkeiten nachgedacht, die sich eröffnen würden, wenn die Zeit manipulierbar wäre. Könnte ihr jetzt ein Zeitsprung Wege eröffnen, die Vergangenheit zu ändern, hin zu einer positiven Wendung ohne Unfall? Träumereien, oder gab es doch eine Chance? In jedem Fall war die Frage geeignet, ihn von seinem hohen Ross herunterzuholen.
Seltsam, diese Zeit
Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft,
denn in ihr gedenke ich, zu leben.
Albert Einstein,
Physiker
Ihr Gegenüber war von der fantastischen Idee eines Zeitsprungs offensichtlich unbeeindruckt. Ruhig und klar antwortete er, wobei sie aus seiner Antwort ein kleines Lob heraushörte.
«Interessante Idee, wie alle Überlegungen, die sich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigen.«
Doch gleich folgte die Einschränkung. »Leider ist eine Reise in die Vergangenheit völlig unmöglich. Eine Zeitumkehr missachtet den Raum und die sich darin abspielenden Vorgänge. Obwohl … nein.« Er schien kurz wankelmütig geworden zu sein, zweifelnd. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen. Sein Blick schien in die Ferne zu schweifen, als er fortfuhr: »Wie stellte schon der Philosoph Heraklit im fünften Jahrhundert vor der Zeitenwende so überaus treffend fest? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Denn es fließe schließlich Wasser, sodass der Fluss sich ständig verändere.5 Mit dieser an sich trivialen Feststellung war Heraklit seiner Zeit weit, sehr weit voraus. Der Lauf der Welt kann nicht rückgängig gemacht werden. Dazu sind zu viele Vorgänge beteiligt.«
Dann wechselte