Ein Quantum Zeit. Volkmar Jesch

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die von Ihrem Auto ausgeht. Nur wenn der Unfall durch ein von außen einwirkendes, außergewöhnliches und nicht abwendbares Ereignis verursacht worden ist, kann diese Haftung ausnahmsweise entfallen.«

      Sie ereiferte sich, unterbrach ihn und betonte jedes einzelne Wort:

       »Der Unfall war für mich ein unabwendbares Ereignis! Mit einem Wort: Schicksal.«

      Er antwortete kühl, fast selbstgewiss: »Von Rechts wegen mag das so sein. Ich bin kein Jurist, und juristische Spitzfindigkeiten sind mir zuwider. Wie Menschen Normen formulieren, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen, interessiert hier weniger. Der Homo sapiens ist seit 200.000 bis 400.000 Jahren – da gehen die Meinungen etwas auseinander – auf diesem Planeten, in jedem Fall ein wahrhaft kosmischer Klacks. Sie müssen die Dinge globaler sehen. Es geht hier um eine viel grundlegendere Einsicht. Die Vorgänge in der Welt passieren, wenn Kausalketten aufeinandertreffen. Und ob dies geschieht, hängt nicht von Zufall oder Schicksal ab.«

      »Moment, das ist dann doch zu einfach«, warf sie ein. Das konnte sie nicht so stehen lassen. »Natürlich wäre der Unfall nicht passiert, wenn es mich nicht geben würde, ich heute Morgen nicht aufgestanden oder erst eine Woche später in Urlaub gefahren wäre. Dass der konkrete Unfall passiert ist, hängt allein davon ab, dass ich ausgerechnet vor diesem Trottel gefahren bin, als der nicht aufgepasst hat. Das war Pech, Schicksal oder mit einem Wort: Zufall. Basta!«

      Zufall

       Der Zufall ist nur das Maß unserer Unwissenheit.

       Henri Poincaré,

       Mathematiker und Philosoph

      Ihr Gegenüber ließ nicht locker. »Der durchaus rätselhafte Begriff des Zufalls passt nicht auf ein Ereignis in unserer realen Welt, auf einen Vorgang, wie Sie ihn erlebt haben.

      Ich will ja nicht behaupten, dass man ein derartiges Ereignis früher nicht mit dem Begriff Zufall bezeichnet hätte. Wie meinte schon Friedrich der Große so eingängig: ›Je mehr man altert, desto mehr überzeugt man sich, dass seine heilige Majestät, der Zufall, gut drei Viertel der Geschäfte dieses miserablen Universums besorgt.‹ Und Napoleon wird der Ausspruch zugeschrieben: ›Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.‹ Fraglich ist allerdings, ob diese Aussagen wirklich richtig sind.

      Bedenken Sie, wenn Menschen etwas als Zufall bezeichnen, haben sie häufig der anderen Hälfte dessen, was sich abspielte, keine Beachtung geschenkt. Der wirkliche Zufall ist etwas anderes, und er hat mit dem Unfallgeschehen nichts zu tun. Es war auch kein Pech oder Schicksal, dass Sie einen Unfall hatten.

      Mit dem Zusammenstoß ist keine negative Wertung zu verbinden, und vorbestimmt war er schon überhaupt nicht. Der Eintritt des Unfalls war wahrscheinlich. Ihnen ist etwas Wahrscheinliches passiert. Wahrscheinlichkeit ist die maßgebliche Größe in unserer Umwelt. Sie bestimmt die Vorgänge.«

      Wahrscheinlichkeit

       Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch,

       dass das Unwahrscheinliche eintreten kann.

       Aristoteles,

       griechischer Philosoph

      Sie überlegte. Vielleicht waren sie gar nicht weit auseinander. Sie hatte sich jetzt auf ein Gespräch eingelassen und wollte nicht so schnell nachgeben. Um wieder Oberhand zu gewinnen, musste sie wissen, wie er die Begriffe definierte, und fragte daher: »Warum bin ich hier? Weil mein Unfall wahrscheinlich war? Wahrscheinlicher wäre doch, dass ich jetzt meine ersten Skiabfahrten hinter mir hätte. Was verstehen Sie denn unter Wahrscheinlichkeit?«

      »Kurz vor dem Unfall wird ein unabhängiger Beobachter den Zusammenstoß als wahrscheinlich einstufen, auch wenn für beide Fahrer der Unfall plötzlich und unerwartet passiert, also für sie kurz zuvor noch ein extrem unwahrscheinliches Ereignis war. Sonst wäre der Unfall nicht passiert. Maßgeblich ist aber nicht die subjektive Sicht des Einzelnen, sondern die objektive Sicht des Betrachters.«

      Sie ließ nicht locker: »Ja, und die Unfallgegner sagen sich: ›Was für ein dummer Zufall.‹«

      Er wandte ein: »Ich gebe ja zu, dass die Begriffe Zufall und Wahrscheinlichkeit eng verknüpft sind. Ich möchte sie aber grundlegend unterscheiden.« Als er ihr fragendes Gesicht sah, bemüßigte er sich, hinzuzufügen. »Nehmen wir ein Beispiel aus der atomaren Ebene, ein Beispiel, das mit dem Begriff der sogenannten ›Halbwertszeit‹ verbunden ist. Radioaktive Stoffe wie Uran zerfallen, und die sogenannte Halbwertszeit ist der Zeitraum, in der die Hälfte des Stoffes in kleinere Bestandteile zerfallen ist. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass irgendein Atom des radioaktiven Elements in der nächsten Zeit zerfällt, den entsprechenden Zeitraum kann man aufgrund der Halbwertszeit berechnen, aber es ist rein zufällig, welches Atom das ist.«

      »Schönes Beispiel. Können Sie noch mehr zum Zufall sagen?«, wollte sie wissen.

      »Ich meine, ja. Die Geschehnisse in der Welt sind regelmäßig kausal miteinander verknüpft, bauen aufeinander auf, wie wenn ein Haus gebaut wird, Stein auf Stein. Schauen Sie von heute zurück in die Vergangenheit, sind grundsätzlich die früheren Ereignisse ursächlich für die folgenden. Der durchaus rätselhafte Zufall hat demgegenüber keine kausale Erklärung und beruht nicht auf einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Er passiert, und es gibt keinen Grund dafür, dass er passiert. Er hat keine kausale Ursache.

      Alle vorherigen Geschehnisse bis zu Ihrem Unfall waren kausal. Nicht nur die Entscheidungen der späteren Unfallgegner waren dabei ausschlaggebend, sondern auch viele Entscheidungen derjenigen Fahrer, denen die späteren Unfallgegner an diesem Tag begegnet sind oder hätten begegnen können, wenn Sie eine andere Entscheidung getroffen hätten.«

      Dann setzte er noch einen oben drauf: »Und Unfall, was heißt schon Unfall. Ihnen ist doch kein richtiger Unfall passiert.« Er wurde fast ein wenig ärgerlich. »Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren kollidierte die Erde mit einem anderen Planeten, der beim Einschlag zerbrach. Der Aufprall war so enorm, dass auch ein Teil der Erde herausgeschlagen wurde und fortan mit den Resten des Impaktors um die Erde kreiste. Aus diesen Teilen entstand später der Mond, wie die Analyse des Mondgesteins bestätigt, das von den Astronauten der Apollo-11-Mission und späteren Mondmissionen mitgebracht wurden. Dem Mond haben wir es vermutlich auch zu verdanken, dass überhaupt Leben auf der Erde entstehen konnte.1 Stabilisiert seine Gravitationskraft doch die Erde und hat entscheidenden Einfluss auf ihre Rotationsachse, deren Neigung wiederum die Jahreszeiten bestimmt.2 Bei der Entstehung des Mondes hat es richtig gerumst. Das nenne ich einen Unfall!«

      Sie zuckte etwas zusammen, doch bevor sie sich verteidigen konnte, redete er schon weiter.

      »Es ist ja richtig, dass es Besseres gibt, als einen Unfall zu erleben. Aber Sie haben ihn überlebt und nur kleine Schrammen davongetragen. Sie müssen das globaler sehen. Irgendwann erlebt fast jeder Mensch einen Unfall, also seien Sie froh, dass Ihrer so glimpflich abgelaufen ist. Denken Sie einmal darüber nach, dass es viel unwahrscheinlicher ist, dass Sie überhaupt hier sind. Es musste eine unheimlich lange Kette positiver Ereignisse eintreten, damit Sie jetzt existieren.«

      »Meinen Sie jetzt die Tatsache, dass es aus den Abermillionen von …«, sie stockte und ärgerte sich, weil dieser Gedanke so unvermittelt gekommen war.

      Ungerührt vollendete er ihren Satz: »… Spermien gerade ›Ihr‹ Spermafaden geschafft hat, die Eizelle Ihrer Mutter zu befruchten? Das ist allenfalls ein Aspekt, und

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