Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов

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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung - Группа авторов

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und Holocaust als persönliche und schulische Herausforderung. Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern in Österreich und Israel

      Seit dem Jahr 2000 ermöglicht _erinnern.at_ im Auftrag des Bildungsministeriums Gruppen von Lehrenden die Teilnahme an Weiterbildungsseminaren zu den Themen Holocaust und Holocaust Education in Israel. In den ersten Jahren fanden diese Seminare ausschließlich in der International School für Holocaust Education in der staatlichen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem statt. Auf der Suche nach ergänzenden Perspektiven wurde das Programm auf das Center for Humanistic Education (CHE) im Beit Lochamej haGeta’ot, dem Haus der Ghettokämpfer und des ältesten israelischen Holocaust-Museum, ausgedehnt. Lochamej haGeta’ot ist ein Kibbuz in Nordisrael und wurde 1949 von Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto gegründet. Das CHE gibt es seit 1995, und es verfolgt in der Beschäftigung mit dem Holocaust einen universalistischen Ansatz. Jüdische und arabische Lehrende arbeiten dort mit jüdischen, arabischen und drusischen israelischen Jugendlichen.

      Im Laufe der Jahre wurden die zwei jährlich stattfindenden Seminare in Israel in Lehrgänge eingebettet. Einer davon findet an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich statt, der zweite an der Pädagogischen Hochschule Salzburg, jeweils in enger Kooperation mit _erinnern.at_. Die Durchführung im Rahmen von Hochschullehrgängen erhöht die Verbindlichkeit in der vor- und nachbereitenden inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Thematik, vor allem im Sinne des Transfers in die Schule. Darüber hinaus erhalten die Teilnehmerinnen und -nehmer ECTS-Punkte für diese hochwertige Weiterbildung, die sie sich in unterschiedlichen Aus- und Weiterbildungskontexten anrechnen lassen können.

      Im Jahr 2007 nahm ich selbst als Lehrerin an einem „Israel-Seminar“ teil. Es war meine erste Reise in dieses Land und zugleich mein erster Kontakt mit _erinnern.at_. Ich war von der Seminarreise ungemein beeindruckt. Das Thema und auch _erinnern.at_ ließen mich nicht mehr los. Seit damals bin ich Teil des Netzwerkes – als Mitarbeiterin in verschiedenen Projekten und als Begleiterin der Seminargruppen nach Israel. Darüber hinaus leite ich den oben erwähnten Lehrgang „Holocaust. Erinnerungskultur. Geschichtsdidaktik“, der an der Pädagogischen Hochschule Salzburg durchgeführt wird und in dessen Rahmen die Seminarreise nach Israel stattfindet.

      In meinem Beitrag werde ich ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung die Frage nach der Bedeutung von Erinnerung und Gedenken stellen. Ich werde Herausforderungen und Widersprüche skizzieren, mit denen sich Lehrpersonen im Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust gegenwärtig konfrontiert sehen. Daraus leite ich pädagogisch-didaktische Fragen ab, mit denen Lehrerinnen und Lehrer in die Fort- und Weiterbildungen von _erinnern.at_ kommen und mit denen sie an den Seminarreisen nach Israel teilnehmen. Daran anschließend führe ich Erfahrungen und Eindrücke aus, die die Teilnehmenden an den Gedenkstätten und Seminarorten in Israel sammeln und komme zu einem abschließenden Resümee in Bezug auf die pädagogisch-didaktische Bedeutung von Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust.

      Drei persönliche Szenen zu Beginn

      Mitte November, unmittelbar vor dem November-Lockdown im Corona-Jahr 2020, gehe ich durch die Linzergasse in Salzburg. Es ist Nachmittag, ein wenig dämmrig wird es schon. Ich bin gedankenverloren, ist doch noch einiges zu erledigen, wer weiß, wie lange die Geschäfte noch offen haben. Mich irritiert diese Zeit, in der viele Menschen mit Mund-Nasen-Schutz, manche auch ohne, eiligen Schrittes unterwegs sind, geradeaus schauen, einander ausweichen. Plötzlich fällt mein Blick auf ein Grablicht, daneben liegen Blumen. Und erst auf den zweiten Blick der Stolperstein. Ach ja, Gedenken an das Novemberpogrom! Da sind also Menschen in dieser seltsamen Zeit durch die Gasse gegangen, mit Blumen und Kerzen, haben sich hinuntergebeugt zu einem Stolperstein nach dem anderen. Diese Erinnerung an Menschen, die in der Shoah verschleppt und ermordet wurden, berührt mich in dieser Zeit ganz besonders. Sie reißt mich heraus aus der bedrückenden Gegenwart und lenkt meine Gedanken in eine noch viel bedrückendere Vergangenheit. Und ich frage mich, was ist das nun, das mir so nahe geht? Dass es Menschen gibt, die sogar in diesen Zeiten auf die Ermordeten der Vergangenheit hinweisen wollen? Dass ich wieder einmal daran denke, wie viele Menschen im Holocaust ihres Lebens beraubt wurden? So viele nicht zu Ende gelebte Leben! Oder ist es diese verstörende Zeit, in der ich momentan lebe, in der sich so seltsame, beängstigende Phänomene verbreiten – antisemitische Verschwörungstheorien, demokratiegefährdende Gedankenwelten, Wissenschaftskritik auf niedrigstem Niveau, krude Vergleiche von sogenannten „Querdenkerinnen und Querdenkern“ mit der NS-Zeit. Dazu eine Wirtschaftskrise, die noch keiner abschätzen kann. Und der pandemische Druck, der Menschen in die Isolation, in den Rückzug und in die Vereinzelung zwingt. Es ist mein emotionales Fenster, das für die Erinnerung an die Opfer der NS-Zeit gerade besonders weit geöffnet ist.

      Noch ein Szenenwechsel. Wieder Juli 2016, im Center for Humanistic Education (CHE) in Lochamej haGeta’ot. David, Israeli, Sohn jüdischer, aus Österreich vertriebener Eltern, und Channan, Palästinenserin mit israelischem Pass, erzählen ihre Geschichten. Beide arbeiten am CHE mit jungen Jüdinnen und Juden, israelischen Palästinenserinnen und Palästinensern sowie mit Drusinnen und Drusen. Sie sitzen kollegial und wertschätzend nebeneinander und erzählen nacheinander ihre unterschiedlichen Familienerinnerungen an den Kibbuz – für David ist es ein mühsam aufgebautes neues Zuhause der Eltern nach der Flucht vor dem Holocaust, der von der syrischen Armee im Unabhängigkeitskrieg zerstört und von den Kibbuzim erneut aufgebaut wurde, Channan verbindet den Kibbuz in ihrer Nachbarschaft mit gewaltsamer Aneignung von Grund und Boden, mit der Vertreibung von arabischer Bevölkerung aus dem Nachbardorf, mit dem Trauma der „Nakba“ („Katastrophe“). Diese Existenz zweier unterschiedlicher Narrative, die hier so augenscheinlich nebeneinander existieren und an diesem besonderen Ort gleichberechtigt erzählt werden, beeindruckt mich sehr. Ähnlich ergeht es mir zwei Tage später, als die Jugendlichen, die hier Seminarreihen besuchen, aus ihrem Leben erzählen und davon, dass sie an diesem geschützten Ort erstmals die jeweils andere Perspektive hörten und erzählten.

      Warum beschreibe ich diese drei Episoden? Was haben sie miteinander zu tun? Eine Antwort werde ich am Ende dieses Beitrags versuchen. Schauen wir aber zuerst in die schulische Realität.

      Herausforderungen

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