Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов
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Geschätzte 15.000-mal ist die von _erinnern.at_, der Pädagogischen Hochschule Luzern und der Fachhochschule Dornbirn entwickelte App „Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten“2 zwischen 2018 und 2020 heruntergeladen worden. Die Lern-App ist aus dem Projekt SISAT (Shoah im schulischen Alltag) hervorgegangen, das darauf abzielte, durch videografierte-Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen angeregtes historisches Lernen im regulären Geschichtsunterricht in Österreich, Deutschland und der Schweiz zu erforschen – auch im Hinblick auf ein besseres Verständnis dafür, wie solche Lernangebote gestaltet sein müssen, damit Lernende den größtmöglichen Nutzen daraus ziehen (Bibermann, 2018). Die mehrfach ausgezeichnete App erschließt Jugendlichen ab 14 Jahren über das Medium Film einen Zugang zu den historischen wie gegenwärtigen Phänomenen Flucht und Vertreibung. Schülerinnen und Schüler lernen Erinnerungen mit historischen Dokumenten zusammenzubringen sowie beide quellenkritisch zu betrachten. Die App kann individuell oder in einer Klasse bzw. Gruppe verwendet werden, im Präsenzunterricht, im Plenum oder in Einzel- bzw. Partnerarbeit, ferner im „Flipped Classroom“, einer Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht.
Mit Blick auf die Erfahrungen in der Corona-Krise lässt sich bereits bilanzieren, dass digitale Medien und Lernangebote für viele – vor allem junge – Menschen ein niedrigschwelliger Einstieg in die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust sein können. Der schnellen Verbreitung und Zugänglichkeit steht allerdings gegenüber, dass vor allem der interaktive Social Media Bereich sich weitgehend einer institutionellen, wissenschaftlichen oder didaktischen Regulierung, eines Kontrollmechanismus bzw. einer Art Autorisierung entzieht. Bei allen Angeboten ist es unabdingbar, didaktisch-kritische Zusatzangebote (historischen Kontext, Aufgabenstellungen etc.) zur Verfügung zu stellen, um die Lernenden im multimedialen und fordernden, möglicherweise überfordernden Umfeld gut anzuleiten und zu begleiten. Was den Einsatz von digitalen Medien im (Geschichts-)Unterricht betrifft, muss die Medien- und Informationskompetenz von Jugendlichen gestärkt werden, um diese gegen Stereotypen, Verschwörungstheorien und Manipulationsversuche zu wappnen. Lehrende können Lernende durch multimediale Tools und interdisziplinäre Zugänge, die auf gesichertem historischen Wissen basieren, motivieren.
Lehren und Lernen in direkten und ohne direkte Begegnungen mit Zeitzeuginnen und -zeugen
Der generationsbedingte Übergang vom individuellen Erfahrungsgedächtnis zum kulturellen Gedächtnis, das ohne lebende Zeitzeuginnen und -zeugen auskommen muss, macht neue Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus notwendig. _erinnern.at_ organisiert nach wie vor direkte Begegnungen zwischen Zeitzeuginnen und -zeugen, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrenden an Schulen und in Form eines jährlichen Zeitzeugen-Seminars.3 Durch Personalisierung, Emotionalität und Nähe wächst bei den meisten Jugendlichen die Motivation, sich auf die Geschichten der Verfolgten einzulassen.
Online-Plattformen, die Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen bereitstellen, sind in den letzten Jahren besonders im europäischen und US-amerikanischen Raum vermehrt entstanden. Bei der Entwicklung von digitalen Lernmaterialien basierend auf Video-Interviews mit Verfolgten für den Schulunterricht hat _erinnern.at_ Pionierarbeit geleistet. Nach der ersten DVD mit Video-Interviews mit Holocaust-Überlebenden („Das Vermächtnis“, 20084) folgten verschiedene Lern-Websites (z. B. „Neue Heimat Israel“, 20115 und „über_leben“, 20186). 2018 wurde die Lern-App „Fliehen vor dem Holocaust“ und 2019 die Website „weiter_erzählen“7 präsentiert. „weiter_erzählen“ macht der Öffentlichkeit – besonders Schulen – derzeit fast 200 Video-Interviews mit Verfolgten des National-sozialismus, die einen Bezug zu Österreich haben, verschlagwortet und sequenziert zugänglich.
Als Antwort auf die Frage, was sein wird, wenn die Überlebenden nicht mehr ihre Geschichte erzählen können, liefern digitale und virtuelle Bildungsangebote zumindest teilweise Antworten. Verschiedene Angebote entwickelte etwa die USC Shoah Foundation z. B. in Form der ZeitzeugInnen-Lernplattform IWitness8, bei der Lernende interaktiv mit Interviews und anderen Quellen arbeiten, oder im Zuge des Projekts „Dimensions in Testimony“9. Als weltweit erstes Projekt ermöglicht „Dimensions in Testimony“ eine Interaktion (bzw. eine Art „Kommunikation“) mit den Erzählungen von Holocaust-Überlebenden. Schülerinnen und Schüler können in eine Frage-Antwort-Interaktion mit vorab mittels moderner 3D-Technologie aufgezeichneten Interviews eintreten und so aktiv an ihrem eigenen Lernprozess mitwirken.
Trotz neuer technischer (und teils vielversprechender) Vermittlungs- und Erzählformen kann für eine direkte Begegnung mit Zeitzeuginnen und -zeugen kein gleichwertiger Ersatz gefunden werden. Neue und zusätzliche Wege lotet _erinnern.at_ derzeit in einer 2019 ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe aus, in der die Möglichkeiten von Schulgesprächen mit „ZeitzeugInnen der zweiten Generation“ erörtert und pädagogische Empfehlungen erarbeitet werden. Schon jetzt vermitteln auch Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus die Überlebensgeschichten ihrer Eltern oder Großeltern in unterschiedlichen Formaten an Schülerinnen und Schüler.
Lehren und Lernen in heterogenen Klassenzimmern
Der faktische Zustand der „Migrationsgesellschaft“ ist in der Integrations- und Bildungspolitik vielerorts die längste Zeit verdrängt und vernachlässigt worden. Erst in den letzten Jahren sind im deutschsprachigen pädagogischen Diskurs über die Thematisierung und Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust die Begriffe „Migrationsgesellschaft“ und „globalisiertes Klassenzimmer“ zentral geworden. Für beide ist längst eine Hybridität charakteristisch, die imaginierte Bilder einer homogenen Gemeinschaft korrigiert. Nationale Gedächtnisdiskurse und eine bislang mehrheitlich hegemoniale Geschichtsschreibung werden durch unterschiedliche Akteurinnen und Akteure der Migrationsgesellschaft herausgefordert, ergänzt und infrage gestellt.
Aushandlungsprozesse über Geschichtsbilder und über gegenwärtige und künftige gesellschaftspolitische Entwicklungen finden insbesondere auch im Klassenzimmer statt. Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, mit eigener Fluchtund Migrationserfahrung oder mit Flucht und Migration als Teil der Familiengeschichte, lernen gemeinsam über die NS-Zeit, besuchen Gedenkstätten, treffen Zeitzeuginnen und -zeugen. Lerngruppenzusammensetzungen