Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов

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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung - Группа авторов

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die Verfolgungen und Massenmorde?

      – Welches waren die Folgen des Holocaust? Wie wurden die Täter bestraft?

      – Welche Bedeutung hat der Holocaust hier und heute?

      Die Antworten auf diese Fragen dürfen durchaus kurz sein. Darüber hinaus müssen die Jugendlichen allerdings auch ikonische Bilder und narrative Abbreviaturen (Rüsen, 1991, S. 231) kennen – also einzelne Bilder oder Begriffe, die für eine ganze Geschichte stehen – wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin oder „Auschwitz“.

      Bei der Vermittlung der gewählten Narrative, Begriffe und Konzepte ist zentral, die oben erwähnten und in Abbildung 1 dargestellten Prinzipien umzusetzen. Narrativität/Konstruktivität bedeutet u. a., dass die Lernenden selbst zum Erzählen kommen. Temporalität/Historizität erfordert das Fragen nach dem Vorher und Nachher, nach Ursachen und Wirkungen. Ein Zeitstrahl ist nach wie vor eine hilfreiche Veranschaulichung für Geschichte. Faktizität/Fiktionalität führt immer wieder zur Frage, was genau wie überliefert ist. Multiperspektivität/Kontroversität erinnert an die Verpflichtung, verschiedene Quellen und Darstellungen für die Vermittlung heranzuziehen. Und Objektivität/Exemplarität weist auf die Notwendigkeit hin, plausible Aussagen zu machen (und festzuhalten), die unabhängig von wertenden Einstellungen der Subjekte gelten und empirisch triftig sind, also methodisch bewusst nachvollzogen werden können (Rüsen, 1997; Pandel, 2017).

      Hinsichtlich des Umgangs mit Gesellschaft soll bei der schulischen Thematisierung des Holocaust in der Regel darauf geachtet werden, dass die gewählten Aspekte Schlüsselprobleme unserer heutigen Welt spiegeln, Grundbedürfnisse von Menschen berücksichtigen und Inklusion/Exklusion betrachten, damit historische Bildung möglich wird. Dies alles sind keine neuen Forderungen, sondern akzentuieren das, was in den Empfehlungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, 2019) ausführlich dargestellt und z. B. im Abschnitt „Konzeptuelles Verständnis“ (ebd., S. 21–23) oder in „Gegenwartsbezüge: Der Holocaust, Völkermorde und Menschenrechtsverletzungen“ (ebd., S. 45–47) ausgeführt ist.

      Wenn Inszenierungen fürs Lehren und Lernen über den Holocaust künftig noch besser historische Bildung ermöglichen sollen als heute, dann müssen die neuen Vermittlungsangebote vor allem intensiver zur Persönlichkeitsbildung der Jugendlichen beitragen. Hier sind neue Akzentuierungen erforderlich: Wie können Emotion und Kognition, Immersion und Reflexion, Identität und Alterität, aber auch Skeptizismus und kritisches Denken sowie moralische Fragen intensiver angesprochen werden? – Aus Studien zur Wirkung von Spielfilmen auf das Geschichtsbewusstsein wissen wir, dass bei audiovisuell vermittelten Geschichten die Darstellung einzelner Menschen eine zentrale Rolle spielt. Sabine Moller z. B. zeigt auf, wie Filme von ihren Zuschauerinnen und Zuschauern konkret angeeignet werden. Die Betrachtung der Filme und damit der Geschichte erfolgt durch das „subjektive Sehen durch einen Körper“ (Moller, 2018, S. 197), was bedeutet, dass die Betrachterinnen und Betrachter durch die Augen einer Filmfigur „mitblicken“. Hieraus resultieren gemäß Moller spezifische „Sehepunkte“. Diese „Sehepunkte“ erklären, wieso beispielsweise Spielfilme mit handelnden und leidenden Menschen das größere Lernpotential zu haben scheinen als eine dokumentarische Kamerafahrt durch das rekonstruierte Vernichtungslager Auschwitz oder eine Virtual Reality-Inszenierung des Geländes.

Illustration

       Amsterdam im Jahr 1943, Schauplatz im Videospiel „When We Disappear“. Das Mädchen links im Bild versucht der drohenden Deportation zu entkommen. Es muss den richtigen Moment erwischen, um unerkannt die Straße zu überqueren. (© Inlusio Interactive)

      Die dargestellte Geschichte basiert auf erzählten und erforschten Gegebenheiten von Kindern und Jugendlichen, die während des Zweiten Weltkriegs quer durch Europa flohen, um sich vor der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu retten. Einige von ihnen wurden durch Fluchthilfe-Organisationen versteckt oder auf Fluchtrouten in Sicherheit gebracht, andere durch Widerstandskämpferinnen und -kämpfer unterstützt, aber viele verschwanden, wurden verraten, entdeckt, gefangen genommen, deportiert, ermordet. Um erfolgreich zu fliehen, benötigen die Gamer Unterstützung und Informationen. Diese bekommen sie u. a. dadurch, dass ebenfalls im Videospiel die Schwester des Mädchens herauszufinden versucht, was genau auf der Flucht geschieht. Mit ihren Erinnerungen, die ins Game eingeblendet werden, hilft sie den Videospielerinnen und -spielern, den Verfolgerinnen und Verfolgern zu entkommen.

      „When We Disappear“ nutzt erstens die Möglichkeiten der Digitalisierung, um neue Vermittlungsangebote zu schaffen. Auf diese Weise wird vor allem in schulischen Vermittlungszusammenhängen eine Kultur der Digitalität aufgebaut (Stalder, 2016), verstanden als Verschränkung von digitalen und analogen Wirklichkeiten, die so die Lebenswelten beeinflussen und Bildung ermöglichen. „When We Disappear“ nutzt zweitens die Chancen von Gamification (Gautschi, 2018). Hier wird die Fluchtgeschichte eines Mädchens zur „Als-ob-Handlung“. Die Gamer werden aktiviert, in die Geschichte verwickelt, und sie bekommen „Handlungsmacht“ (Agency) (Hewson, 2010). McCall hat dies als „participatory public history“ bezeichnet (McCall, 2019, S. 38), wo Probehandeln möglich wird. „When We Disappear“ ist ein Labor für Fliehen. Es simuliert die Situation im Jahr 1943 von jungen Menschen in Amsterdam und konfrontiert die Videospielerinnen und -spieler ständig mit den Konsequenzen ihres Handelns. Damit werden sie in die Situation hineingezogen, müssen abwägen, und sie werden emotional berührt. Im Akt des Spieles tauchen Nutzerinnen und Nutzer ein ins Universum des Historischen und konstruieren Geschichte (vgl. Giere, 2019, S. 51).

      Ob „When We Disappear“ und andere vergleichbare Angebote und neue Vermittlungsinszenierungen tatsächlich einen Beitrag zur historischen Bildung im Allgemeinen und zur Persönlichkeitsbildung im Besonderen leisten, muss sich allerdings erst noch zeigen. Entscheidend ist, dass Emotion mit Kognition kontextualisiert, Immersion mit Reflexion ergänzt, Identität mit Alterität bereichert, kritisches Denken angeregt und moralische Fragen verhandelt werden. Dies alles in der Vermittlungsinszenierung selbst anzulegen, wäre – sofern überhaupt möglich – hohe didaktische Kunst. Etwas einfacher ist, wenn dies in schulischen Zusammenhängen die Lehrerinnen und Lehrer gewährleisten. Ihre Rolle für gelingende historische Bildung und erfolgreiches Lehren und Lernen über den Holocaust wird auch in Zukunft zentral sein.

      Literaturverzeichnis

      Barricelli, Michele / Peter Gautschi / Andreas Körber: Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle, in: Barricelli, Michele / Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Schwalbach/Ts. 2012) S. 207–235.

      Bergmann, Klaus: Identität, in: Bergmann, Klaus u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik (Seelze-Velber 19975) S. 23–28.

      Bonhage,

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