Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов
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Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust ist als globale Geschichte mit globalen Auswirkungen zu vermitteln; die Erinnerung daran kann sich demzufolge ebenfalls nicht an nationalstaatliche Grenzen halten. Angesichts der globalen Dimensionen von Weltkrieg und Holocaust ist es zudem nicht unwahrscheinlich, dass migrierte Jugendliche einen familiären Bezug zu den verhandelten Themen haben. Wesentlich ist, Erinnerungen nicht als miteinander in Konkurrenz stehend zu begreifen oder zu hierarchisieren.
Pädagogisch-didaktisch reflektierte schulische oder außerschulische Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust sollte interkulturelle Perspektiven insofern berücksichtigen, dass der Fokus auf der „Migrationsgesellschaft als Kontext statt auf Migrant[Inn]en als Zielgruppe“ liegt (Kühner, 2008). Als soziale Kondition betrifft „Migrationsgesellschaft“ schließlich sämtliche Teilhabende, unabhängig von ihrer Herkunft. Astrid Messerschmid formuliert die Anforderung so: „Die Wissensvermittlung über den Holocaust – sein Ausmaß, die Art der Durchführung und seine ideologische Begründung – kann keiner Selbstbestätigung dienen über das eigene moralisch gefestigte Geschichtsbewusstsein oder über einen nationalkollektiven Konsens der Aufarbeitung“ (Messerschmidt, 2010).
Nicht hegemoniale Wissensproduktion, sondern Heterogenität in der Vermittlerpraxis sowie eine stärkere Subjektorientierung sollten als zentrale Ziele der Geschichtsvermittlung in post-migrantischen Gesellschaften formuliert werden.
Multiperspektivische Lehr- und Lernmaterialien mit Gegenwartsbezug
Effektive Bildungsangebote, die im Schulunterricht und an außerschulischen Lernorten eingesetzt werden, sollten in erster Linie niederschwellig zugänglich sein sowie an die Lebens- und Alltagswelten der Jugendlichen, ihre Erfahrungen, Interessen und Betroffenheiten anknüpfen. _erinnern.at_ entwickelt seit zwei Jahrzehnten mit interdisziplinären Teams aus Expertinnen und Experten Lehr- und Lernmaterialien, die unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe und heterogene Erfahrungen der Zielgruppen nicht nur als Tatsache anerkennen, sondern diese inhaltlich auch verhandeln und adressieren. So basiert das Lernheft „Ein Mensch ist Mensch – Rassismus, Antisemitismus und sonst noch was …“10 beispielsweise auf den persönlichen Erlebnissen und Aussagen von österreichischen Jugendlichen, die zum Teil eigene oder familiäre Migrationserfahrung haben.
Multiperspektivische, widersprüchliche und konfligierende Narrative und Erinnerungen sind auch dem Unterrichtsmaterial „Fluchtpunkte. Bewegte Familiengeschichten zwischen Europa und Nahost“11 immanent, das von _erinnern. at_ gemeinsam mit internationalen Kooperationspartnerinnen und -partnern konzipiert worden ist. Flucht, Migration, Antisemitismus und Rassismus werden im Kontext der Geschichte des Nationalsozialismus und unter Berücksichtigung der Folgen historischer europäischer (Nahost-)Politik diskutiert. „Fluchtpunkte“ stellt Lebensgeschichten mit Flucht- und Migrationserfahrungen vor, die Verflechtungen der deutschen und österreichischen Geschichte mit der Geschichte des arabisch-jüdischen Nahen Ostens zeigen. Didaktisch erschlossen durch sechs Lernmodule ermöglichen die Biografien strukturgeschichtliche und politische Prozesse, Identitätsbilder und unterschiedliche Narrative zu diskutieren, wodurch „Wir – die anderen“-Dichotomien aufgebrochen werden können. Europa und der Nahe Osten werden nicht als separate, abgeschlossene Räume gedacht; nationale Selbstbilder werden durch transkulturelle Perspektiven infrage gestellt. Historische und aktuelle Ereignisse und unterschiedliche Opfergeschichten können verglichen werden, ohne sie gleichzusetzen oder zu hierarchisieren.
Zukunftsweisende Projekte
Was künftige Entwicklungen und Perspektiven in der Vermittlungsarbeit von Nationalsozialismus und Holocaust betrifft, sei auf ein innovatives Bildungsangebot in Kanada verwiesen, wo spezielle Workshops für Neuimmigrantinnen und -immigranten konzipiert wurden, die den Spracherwerb und das Lernen über den Holocaust verknüpfen. In Kombination mit spezifischen Sprachlernmethoden helfen die von der bereits erwähnten IWitness-Plattform der USC Shoah Foundation stammenden Videointerviews die neue Sprache zu erlernen, den Wortschatz aufzubauen, sowie gleichzeitig die Geschichte des Holocaust zu vermitteln. Lernenden werden konkrete Beispiele von Personen gezeigt, die flüchten mussten, in ein neues Land eingewandert sind und die notwendigen Fähigkeiten erworben haben, um sich erfolgreich in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Auch wenn sich ihre eigene Flucht bzw. Migration nach Kanada erheblich von jener der Holocaust-Überlebenden unterscheidet, bilden die eingesetzten Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen sowie die gemeinsamen Erfahrungen der Einwanderung beim Aufbau eines neuen Lebens und damit verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen ein pädagogisch sinnvolles Lernumfeld, so die Überlegung (Phillips, 2018).
Unabdingbar ist beim historischen Lernen, Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen miteinander zu verknüpfen. Eine gelungene Geschichtspädagogik schafft ein motivierendes Unterrichtsklima und stimuliert einen Reflexionsprozess, „durch den sich die Lernenden mit der Vergangenheit in Beziehung setzen und einen Dialog mit der eigenen Vorgeschichte beginnen.“ Zugänge und Bezüge zur Vergangenheit herzustellen, gelingt – wie am Lern- und „Resonanzort“ Yad Vashem gezeigt – durch „komplexe, aus mehreren Identitätsschichten zusammengesetzte Persönlichkeiten, kulturelle Resonanzen und Bezüge zu heutigen Lebenswelten, transnationalen und transkulturellen Bewegungen, Parallelen in der Altersstruktur sowie Individualität und Handlungsmacht“ (Hartmann, 2020).
Trotz innovativer und effektiver Bildungstools, die bereits zur Anwendung kommen, muss das Angebot an zielgruppenorientierten, multiperspektivischen, mehrsprachigen und auch in einfacher Sprache zugänglichen Unterrichtsmaterialien und -konzepten kontinuierlich erweitert werden.
Fazit
Die Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust steht gegenwärtig vor mehreren Herausforderungen. Der Schule kommt dabei als zentraler Sozialisationsinstanz besondere Bedeutung zu. Die von Lehrenden beschriebenen Schwierigkeiten, Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust zu vermitteln, beruhen auf einem Zusammenspiel verschiedener Ursachen und Entwicklungen. Digitalität und Migration haben sich als charakteristische Aspekte des aktuellen pädagogischdidaktischen Diskurses herauskristallisiert. Die Dynamik der Entwicklungen in heterogenen und digitalisierten Klassenzimmern mündet in Fragestellungen, die die grundsätzlichen Fragen der Holocaust Education „Warum über den Holocaust unterrichten?“, „Was über den Holocaust unterrichten“ und „Wie über den Holocaust unterrichten?“ ergänzen: Wie geht es Schülerinnen und Schülern, die nicht den historischen und kulturellen Erfahrungshintergrund der Mehrheitsgesellschaft haben? Wie kann der Distanz und Abwehr, die Jugendliche den Inhalten (artikuliert oder unartikuliert) entgegenbringen, begegnet werden? Wie lassen sich die Geschichten von Überlebenden in den Unterricht integrieren, vor allem, wenn diese bald nicht mehr selbst an Schulen gehen? Und schließlich: Wie können digitale Bildungsangebote im Präsenz- und im Fernunterricht sinnvoll eingesetzt