Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов
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Immer noch sagen viele Lehrkräfte, sie würden mit ihren Schülerinnen und Schülern in das „KZ“ fahren, manche reagieren irritiert auf den Hinweis, dass es kein KZ mehr ist, sondern längst eine Gedenkstätte. Und Jugendliche wundern sich oft, dass sie an Ort und Stelle nicht nachempfinden können, was die eingesperrten Menschen damals erlebt und erlitten haben, einige haben deswegen sogar ein schlechtes Gewissen – zumal, wenn das Wetter schön ist und die sanften Hügel des Mühlviertels sich im Licht der Jahreszeiten von ihrer besten Seite zeigen. Aus diesem Grund ziehen es manche Lehrpersonen vor, mit ihren Schulklassen in der kalten Jahreszeit nach Mauthausen zu fahren, damit die Schülerinnen und Schüler wenigstens die Kälte spüren, den eiskalten Wind, der ihnen in die Knochen fährt.
Dahinter liegt ein zentrales und ehrenwertes Anliegen vieler Lehrpersonen: Jüngere Generationen müssen aufgeklärt und daran erinnert werden, was hier passiert ist. Und dieses Erinnern muss an das Empfinden der verfolgten und vielfach vernichteten Menschen anknüpfen. Das Geschehene können wir nicht mehr rückgängig machen, aber über das Unrecht sprechen, es ins Bewusstsein der nächsten Generation(en) weitertragen, Empathie für die gequälten Menschen wecken, das können und müssen wir. Denn wenn es die Jungen nicht mehr erfahren, vergisst das ganze Land.
Bei manchen Jugendlichen kommt genau diese Lernerfahrung an. Sie reagieren sehr sensibel, rufen an diesem historischen Ort Bilder und individuelle Schicksale aus Filmen oder Büchern ab, die sie über den Holocaust gelesen oder gesehen haben und sind zutiefst berührt, in ihrer Emotion oftmals überfordert. Andere aber – und es werden immer mehr – können diese Verbindung nicht (mehr) herstellen. Zu weit weg ist die Geschichte von ihrem Leben, mittlerweile ist es bereits die vierte Generation, die im Unterricht diese Geschichte lernt. Darüber hinaus stammen viele Schülerinnen und Schüler aus Elternhäusern oder Ländern, die gar keinen Bezug zum Thema oder aber einen völlig anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Nationalsozialismus sowie auf Jüdinnen und Juden haben. In den Familien der Jugendlichen in der Schule spielen oft andere Verfolgungsgeschichten eine Rolle – offen oder verdrängt. So schreibt Omar Khir Alanam, der als Geflüchteter nach Österreich kam:
„[…] das Geschichtsbild der Syrer ist ohnehin ein anderes, als man es sich hier vorstellen kann: Denn in den Schulbüchern, die Diktator Assad freigibt, wird behauptet, Hitler habe im Ersten Weltkrieg die Gräueltaten der Juden miterlebt und darum habe er sein Volk später vor ihnen schützen wollen. Dass er in Wahrheit sechs Millionen Juden grausam ermorden ließ, habe ich – ob Sie es glauben oder nicht – tatsächlich erst in Österreich erfahren.“ (Alanam, 2020, S. 10)
Viele Jugendliche fragen sich, warum sie Mitgefühl für Menschen empfinden sollen, die schon so lang tot sind, mittlerweile wären ohnehin schon fast alle auch eines natürlichen Todes gestorben. Sie können ja nicht mit allen Verfolgten und Ermordeten der Geschichte empathisch sein. Die Verfolgten, die Kriegsopfer, die Leidenden der Gegenwart empfinden sie als näher oder diejenigen aus ihrer Heimat oder der Heimatregion ihrer Eltern. Dazu Bernadette Edtmaier, die eine Studie zum Antisemitismus unter österreichischen Jugendlichen verfasst hat:
„Manche MuslimInnen, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden, solidarisieren oder identifizieren sich auf Basis ihrer gemeinsamen Religion mit der Seite der PalästinenserInnen, die als muslimische Opfer schlechthin gelten. ‚Die‘ Israelis auf der anderen Seite werden zum Feindbild. Um den Feind zu diskreditieren, wird die Situation der PalästinenserInnen immer wieder mit dem Holocaust verglichen und teilweise sogar gleichgesetzt.“ (Edtmaier, 2019, S. 159)
Bettina Alavi spricht von einer möglichen „Erinnerungskonkurrenz“, die Jugendliche mit Migrationshintergrund im Zusammenhang mit dem Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust erleben können. Warum beispielsweise nicht über die „Nakba“ sprechen, wenn über das Leiden der Juden so viel geredet wird? (Alavi, 2013, S. 80f.)
Lehrende, die mit ihren zunehmend heterogenen Schulklassen über Nationalsozialismus und Holocaust sprechen oder Gedenkstätten besuchen, befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen persönlicher Betroffenheit von der Thematik, ihrem pädagogischen Auftrag, den völlig unterschiedlichen Reaktionsmustern ihrer Schülerinnen und Schüler sowie der gesellschaftlichen Erwartung, die einem Gedenkstättenbesuch zugeschrieben wird. Wenn etwa Staatssekretärin Karoline Edtstadler sagt, sie habe
„[…] das Ziel ausgegeben, dass jeder Schüler einmal in seiner Schulzeit, aber auch alle Migranten und Asylwerber, die neu in Österreich sind, die KZGedenkstätte Mauthausen besuchen sollen. Das kann z. B. im Rahmen der Wertekurse erfolgen. Nur so kann eine Aufklärung über die schrecklichen Ereignisse erreicht werden“. (Kleine Zeitung, 2. Mai 2019)
Auf diese Weise schreibt sie dem Besuch der Gedenkstätte Mauthausen eine überbordende Bedeutung zu, steht die Forderung doch im Zusammenhang mit den Ergebnissen einer Studie,2 die weitgehendes Unwissen von Jugendlichen über Nationalsozialismus und Holocaust zutage förderte. Der Besuch der Gedenkstätte, so könnte man den Schluss ziehen, würde die Wissenslücken schließen. Wer „einmal in seiner Schulzeit“ oder im Rahmen des „Wertekurses für Asylwerberinnen und -werber sowie Migrantinnen und Migranten“ nach Mauthausen kommt, der oder die müsste also verstehen. Wie Schuppen würde es ihm oder ihr von den Augen fallen.
Lehrende aber wissen, dass dem nicht so ist. Die verbliebenen Baracken sind leergeräumt und renoviert, der Appellplatz ist asphaltiert, alles dort ist ruhig und friedlich. Ein Ort also, der nur etwas bedeutet, wenn man die Geschichte bereits kennt, wenn man weiß, wofür er steht. Und es stellt sich die Frage, ob die Bedeutung über die Emotion kommen soll. Ich frage mich darüber hinaus: Welche „Werte“ wollen wir als Tätergesellschaft an junge Migrantinnen und Migranten vermitteln, wenn wir sie in die Gedenkstätte Mauthausen bringen? Unsere? Indem wir ihnen dort vermitteln, was unsere Vorfahren getan haben? Dann müsste die Herangehensweise ja die sein, zu sagen: Schaut her, das haben unsere Vorfahren Jüdinnen und Juden, der Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen aus anderen Ländern, politischen Gegnerinnen und Gegnern, Roma und Sinti, Homosexuellen und Menschen angetan, die als „asozial“ oder als „Verbrecherinnen und Verbrecher“ eingestuft wurden. Wir haben daraus gelernt und bitten euch, unsere Lektion gleich mitzulernen. Ob das von der Staatssekretärin so gemeint war?
Wenn Lehrpersonen an Erinnerungsorte gehen, tun sie das gleich wie alle anderen Besucherinnen und Besucher stets als Individuen mit ihrer eigenen Geschichte, Sozialisation, Vorerfahrung, Einstellung, oft auch mit ihrer Betroffenheit. Doch gleichzeitig stehen sie dort als Pädagoginnen und Pädagogen: Sie haben Lehrpläne im Kopf, Kompetenzen, die sie entwickeln sollen, sie haben eigene inhaltliche Anliegen und wissen auch um ihren gesellschaftlichen Auftrag. Sätze wie den vielfach zitierten „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“, der vom Holocaust-Überlebenden