Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon

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Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon Georges Simenon

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Labbé war ruhig, ja gelassen. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf den Wecker.

      »Noch zwanzig Minuten!«

      Noch zehn. Noch fünf. Um halb elf klappte er seufzend sein Buch zu, erhob sich und ging ins Badezimmer. Um Viertel vor elf legte er sich im rechten Bett schlafen.

      Früher hatte nur ein einziges Bett in dem Zimmer gestanden, ein sehr schönes Bett, das zu den anderen Möbeln im Raum gepasst hatte. Nach Mathildes Erkrankung hatte man es über die Straße – es gab ja keine Treppe zwischen den beiden Stockwerken – in die obere, leerstehende Wohnung getragen und es durch zwei von einem Nachttisch getrennte Betten ersetzt.

      Er drehte sich um und versicherte sich, dass die noch rote Glut im Kamin nicht auf den Teppich fallen und ihn in Brand setzen konnte.

      Gegenüber arbeitete Kachoudas immer noch. Er war ein armer Schlucker. Er machte alles selbst, einschließlich der Unterhosen und der Westen, die die wichtigeren Schneider Heimarbeiterinnen anvertrauten.

      Jetzt, da das Zimmer im Dunkeln lag, konnte Monsieur Labbé durch das Rollo hindurch das helle Rechteck auf der anderen Straßenseite sehen.

      Ehe er einschlief, sagte er halblaut, denn etwas zu sagen war immer gut:

      »Gute Nacht, Kachoudas.«

      Seinetwegen brauchte der Wecker nicht zu läuten; er wachte um halb sechs in der Früh von selbst auf. Die dicke Louise schlief noch, vergraben in ihrem feuchten Bett; mit Sicherheit hörte sie ihn, wenn er aufstand, vom Treppenabsatz Scheite holte, die Tür wieder schloss, sich ein Feuer anmachte. Einen Augenblick später an diesem Morgen fiel ihm auf, dass etwas fehlte, und das war das Geprassel des Regens, das Geräusch des Wassers in der Dachrinne. Noch war es zu dunkel, den Himmel zu sehen, aber man ahnte den Seewind, der die Wolken ins Landesinnere jagte.

      Er musste sein Bett machen, das Zimmer aufräumen, den Kübel mit der Kaminasche nach draußen stellen – für alles das verfügte er über präzise Bewegungen, die er in einer minutiös einstudierten Abfolge ausführte.

      Er redete ein bisschen vor sich hin, sagte irgendwas, sah bald schon das Fenster gegenüber hell werden. Das war nicht Kachoudas, der schlief noch, aber dessen Frau, die im Haus für Feuer sorgte, die Werkstatt fegte, Staub wischte.

      Er hörte Karren vorbeifahren, die unterwegs waren zum Markt, dann andere, die unten in der Straße haltmachten, die Stimmen der Bäuerinnen, das Aufprallen der Körbe und Säcke, die man auf den Boden fallen ließ.

      Es war Samstag. Er nahm sein Bad, zog sich an, während sich unmittelbar hinter der Waschraumwand Louise wusch.

      Sie ging als Erste nach unten, um Kaffee zu machen und damit das Feuer brannte, wenn er seinerseits hinunterging.

      »Guten Morgen, Louise.«

      »Guten Morgen, Monsieur.«

      In der Hutmacherei steckte er ein Streichholz in das kleine Loch im Gasofen. Die Straßengeräusche wurden lauter, doch es war noch nicht Zeit, die Fensterplatten abzunehmen.

      Zunächst hatte er sein Frühstück zu sich zu nehmen, dann Mathilde das ihrige nach oben zu bringen. Der Himmel fing an blass zu werden. Monsieur Labbé rollte den Sessel, den er stets im selben Winkel an denselben Platz stellte, bis ans Fenster, wo er sicherging, dass der Holzkopf aus dem Hinterzimmer seines Ladens nicht runterfallen konnte.

      Licht ausmachen. Rollo hochziehen. Alles war grau, fast weiß. Der Regen war zu Nebel geworden, sodass man Kachoudas’ Lampe nur durch einen Schleier sah.

      Die Fensterscheiben waren beschlagen. Würde es endlich Frost geben? Die Bäuerinnen auf der Straße, dick in Tücher eingemummelt, hielten beim Aufstellen ihrer Körbe ab und an inne, um sich mit blau angelaufenen Händen unter die Achseln zu klopfen. Es war eine darunter, eine kleine Alte, die stellte sich seit vierzig Jahren an denselben Platz und hatte einen Kohlenofen angezündet. Zu dieser Jahreszeit verkaufte sie Kastanien und Nüsse.

      Kachoudas hatte noch nicht Platz auf seinem Tisch genommen. Die Tür zur Küche stand offen, und die ganze Familie war dabei zu frühstücken. Madame Kachoudas war weder gewaschen noch frisiert. Die kleinste der Blagen, der einzige Junge, hatte große schwarze, mandelförmige Augen und immer noch sein Nachthemd an.

      Es waren komische Leute. Sie aßen schon morgens Wurst. Kachoudas wandte ihm den Rücken zu, eine Schulter höher als die andere.

      Monsieur Labbé würde auf ihn warten. Er hatte immer dies oder das zu tun. Die Zeitungen, aus denen er die Wörter und Buchstaben ausgeschnitten hatte, waren schon verbrannt. Er brachte Louise seinen Anzug vom Vortag, damit sie ihn aufbügelte, schließlich war er äußerst gepflegt, seine Kleidung stets aus feinem Tuch, seine Schuhe maßgefertigt.

      Es hatte angefangen mit dem Gerumpel von ein paar Karren und mit vereinzelten Stimmen, und jetzt war es vom einen Ende der Straße bis zum anderen angeschwollen zum ohrenbetäubenden Radau jeden Samstags. Schon im Voraus wusste er, welcher Geruch nach frischem Gemüse, nach befeuchtetem Kohl, nach Hühnern und Kaninchen ihm in die Nase stiege, sobald er die Tür zum Laden öffnete.

      Eine ganze Weile musste er noch warten, das Auge am Spalt, bis Kachoudas endlich aus dem Haus kam und er es ihm nachmachte und über die Köpfe der Frauen hinweg rief:

      »Guten Morgen, Kachoudas.«

      Die dürren Schultern zuckten, der Mann drehte sich um, öffnete den Mund, brauchte einige Sekunden, ehe er hervorbrachte:

      »Guten Morgen, Monsieur Labbé.«

      Für ihn musste das unfassbar sein, fast eine Halluzination – nicht zuletzt wohl aufgrund des Nebels. Alles ging wie jeden Morgen vonstatten, jedenfalls wie an jedem anderen Samstag: Der Hutmacher war frisch rasiert, sorgfältig gekleidet, würdevoll entfernte er von seinem Auslagefenster die Tafeln, die er eine nach der anderen hineinbrachte in die dafür zurechtgezimmerte Nische hinter der Tür.

      Das Pflaster war noch nass, das Wasser stand in Pfützen entlang der Trottoirs. Die Metzgerei neben Kachoudas ließ das Licht an.

      Valentin kam um halb neun, mit roter Nase, und musste sich schnäuzen, kaum dass er im Laden war.

      »Hab mir einen kleinen Schnupfen geholt«, sagte er.

      In der ohnehin überhitzten Luft der Hutmacherei würde er ihn großziehen können. Monsieur Labbé zog seinen Mantel an, nahm seinen Hut.

      »Ich bin in einer Viertelstunde zurück.«

      Er ging Richtung Markthalle und wurde von vielen gegrüßt, denn er stammte aus La Rochelle, wo er auch immer gelebt hatte. Er wählte den Briefkasten in der Rue des Merciers – in dem Hin und Her der ganzen Leute lief er an diesem Morgen keine Gefahr, bemerkt zu werden. Dann, so wie er es samstags gerne tat, tauchte er ein in das Getümmel der Markthalle, schlenderte vorbei an den Ständen für Fisch und Krustentiere.

      Erst auf dem Heimweg kaufte er sich an der Ecke zu seiner Straße die Zeitung und steckte sie sich in die Tasche, ohne allzu neugierig einen Blick darauf zu werfen.

      Eine Bäuerin hatte ihren Sohn mitgebracht, dem Valentin, Taschentuch in der Hand, Mützen anprobierte. Es war der Tag dafür. Monsieur Labbé ging Mantel und Hut ablegen, sagte durch den Türspalt zu Louise:

      »Kaufen Sie Langusten. Die kleine Alte aus Charron hat schöne.

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