Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger
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Sophie gesellte sich zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn.
»Die Kinder schlafen tief und fest. Und Bella ist wieder in Davids Bett gehüpft …«
Philipp lachte. Als Sophie einmal ein Wochenende mit den Kindern zu ihren Eltern gereist war, hatte er den Hund zu sich in Bett gelassen. Das war aber sein Geheimnis geblieben. Er konnte die kindliche Freude seines Sohnes über die Gesellschaft des treuen Vierbeiners daher nur zu gut verstehen.
Sophie nahm Philipp das Weinglas aus der Hand und trank einen Schluck. Ihr Pyjama fühlte sich warm und flauschig an. Philipp liebte den Geruch ihrer Bodylotion – er musste dabei immer an Zuckerwatte denken.
»Na, wie geht es meinem schlagfertigen Professor Jones?« neckte Sophie ihn und zeigte dabei die kleine Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen, die bei Philipp auch nach so vielen Jahren noch ein wohliges Kribbeln auslöste – wie bei ihrem ersten Date in der Oper. Das sanfte, kaum wahrzunehmende Lispeln erinnert ihn an das Summen einer Honigbiene.
Er sah seine Frau ehrlich überrascht an. »Von wem hast du das denn? Ist dir unsere gute Rektorin zufälligerweise über den Weg gelaufen? Sie nannte mich neulich sogar einen Krieger.«
»Nein, aber anscheinend wirst du von deinen jungen Verehrerinnen Indiana Jones genannt. Habe ich gehört. Irgendwo auf dem Flur. Du kennst ja die Uni – überall gibt es Augen und Ohren, wie in einem mittelalterlichen Schloss. Hast du dich nie gefragt, warum so viele Studenten und vor allem Studentinnen deine Vorlesungen besuchen? Am Thema kann es ja nur schwerlich liegen.«
Philipp küsste seine Frau innig und lang. »Ist da jemand eifersüchtig?«
»In your dreams. Aber warum nennt Fries dich einen Krieger? Du hast doch nicht schon wieder jemanden verprügelt?« Sie sah Philipp sorgenvoll an.
»Nein, nein«, antwortete dieser wahrheitsgetreu. »Schelbert, die Ökonomieprofessorin, nennt mich so, weil ich gemäß ihren Aussagen alles kriege, was ich will.«
»So, so, die Schelbert. Wenn sie dir zu nahe kommt, kriegt sie auch etwas. Nämlich ein Problem – mit mir!« Sophie lachte laut.
»Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Ich bin der Schelbert sicher ein Dorn im Auge und traue ihr nicht so richtig über den Weg. Du arbeitest doch in dieser interdisziplinarischen Kommission mit ihr zusammen. Verhält sie sich dir gegenüber korrekt? Sonst kriegt sie es mit mir zu tun«, sagte er schmunzelnd. Es war ihm ernst. Für seine Familie würde er alles tun.
»Danke, dass du mich verteidigen würdest, mein kleiner Raufbold. Aber ich kann mich gut selber wehren und bis jetzt hat sie sich immer freundlich verhalten.«
Sie küssten sich lange und innig. Philipp liebte es, in den dunkelblauen Augen seiner Frau zu versinken.
»Dafür weiß ich jetzt, was ich dir zu Weihnachten schenke.«
»Eine Peitsche wie Indiana Jones?«, fragte Philipp freudig.
»Nein, einen Filzhut«, antwortete Sophie fröhlich und zog ihn an sich.
Das Verschwinden
des Monsieur Laurent
Zürich, Sommer 1988
»Monsieur Laurent, einen Augenblick, bitte.«
Der angesprochene Mittfünfziger drehte sich an der Tür noch einmal zu von Werdenberg um und blickte ihn fragend an. Er hatte mehr von dem Bankier bekommen, als er sich je hätte vorstellen können. Die Privatbank von Werdenberg war jeden Rappen wert. Genauer – jede Million.
»Sie wünschen?«, fragte der galante Franzose, der ohne Zweifel aus bestem Hause stammte und die teuersten französischen Privatschulen besucht hatte, leicht von oben herab. Sein graumeliertes Haar war sorgfältig mit reichlich Brillantine nach hinten gekämmt worden und klebte am Kopf wie ein Motorradhelm. Er gehörte ganz offensichtlich zu der Gattung von Männern, die ihre Größe auf- und ihr Gewicht abrundeten.
»Sie enttäuschen mich zutiefst, Monsieur«, rügte ihn der Besitzer der Privatbank von Werdenberg streng. Er hielt den Zeigefinger in die Luft wie einen Taktstock, und seine Halsschlagader pulsierte gefährlich. Sein Gesicht war rot angelaufen. Der ganze Raum schien sich zu verdunkeln. »Wenn ich nicht ich wäre, dann hätten Sie soeben die Arbeit von zwei Jahren und viele Millionen Schweizer Franken zerstört! Monsieur Laurent existiert nicht mehr, haben Sie das bereits vergessen? Er ist heute spurlos verschwunden und wird nie wieder auftauchen. Zumindest nicht lebendig.« Die Stimme des Bankiers hatte einen drohenden Ton angenommen.
Der angesprochene Privatkunde lief rot an wie eine Tomate. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Er hatte das Gefühl, auf die Größe eines Erstklässlers zu schrumpfen. Sein zweifellos maßgeschneiderter Anzug war ihm von einer Sekunde auf die andere eine Nummer zu groß geworden. Von Werdenberg zeigte keinerlei Mitleid und überfuhr den bemitleidenswerten Franzosen wie eine Dampfwalze. Der Kunde wusste nicht, wie ihm geschah.
»Sie waren es doch selber, der Monsieur Laurent für immer verschwinden lassen wollte. Haben Sie schon vergessen? Monsieur Laurent, der arme Mann – so reich und dennoch so unglücklich! Die nervende Verwandtschaft? Seine gar so böse Frau? Die Firma, die unverschuldet in Schieflage geraten ist? All der Ärger, der Stress und die permanenten Angstzustände? Dieser Monsieur Laurent existiert nicht mehr. Es ist nicht schade um diesen weinerlichen Waschlappen. Und um diesen Kerl endlich loszuwerden, haben Sie viel investiert. Wir haben viel investiert. Wir haben dem armen Tropf eine neue Identität aufgebaut, Victor Hubert erschaffen, für ihn und seine Freundin vorgesorgt, sogar einen chirurgischen Eingriff organisiert. Monsieur Laurent ist Geschichte. Seit heute. Außer Sie selber lassen ihn wiederauferstehen. Ich warne Sie nochmals ausdrücklich. Sie sind ab sofort Victor Hubert, erfolgreicher Geschäftsmann aus Belgien, der sich auf seinem neuerworbenen Anwesen in der Bretagne niederlässt. Dort wird er für einige Zeit ein zurückgezogenes Leben führen. Zusammen mit seiner Geliebten, jung und schön. Monsieur Hubert lebt dort reich, sorgenfrei und diskret. Sollten sich seine neuen sozialen Kontakte, die sich mit der Zeit unweigerlich ergeben, über ihn informieren, so werden sie die Details zu seinem Lebenslauf so vorfinden, wie es Victor Hubert ihnen erzählt hat. Haben wir uns verstanden?«
Der Gescholtene begann, sich stotternd zu verteidigen, da er eine solche Predigt wahrlich noch nie hatte über sich ergehen lassen müssen. Das klägliche Bild, das der Kunde abgab, stachelte von Werdenberg weiter an. Er unterbrach ihn grob: »Es gibt kein Zurück. Sollte dieser Nichtsnutz Laurent irgendwann doch noch einmal auftauchen, werde ich ihm eigenhändig das Genick brechen. Haben wir uns verstanden?«
Von Werdenberg atmete schwer aus. Er hatte sich wortwörtlich ausgekotzt. Sein Gegenüber nickte gebrochen. Die Nachricht war angekommen. Von Werdenberg hatte sich wieder etwas besser im Griff und half seinem Kunden aus dem Tal der Tränen. »Sind Sie sich der Absolutheit unseres Deals bewusst? Nur wenigen Auserwählten ist es vergönnt, in unser Netzwerk aufgenommen zu werden. Ein Netzwerk, das nicht exklusiver und einflussreicher sein könnte. Versteckt hinter dem Mantel unserer Bank. Und unsere Bank wird auch dafür sorgen, dass es Ihnen bis an Ihr Lebensende an nichts mangeln wird. Die Konten unseres neuen Kunden – Victor Hubert – sind prall gefüllt und jederzeit von überall abrufbar. Die bestehenden Vermögenswerte vom verschwundenen Monsieur Laurent werden ordnungsgemäß der trauernde Verwandtschaft übergeben.«
Der Angesprochene hatte in der Zwischenzeit seine Fassung wiedergefunden, schnaubte verächtlich und reckte sein Kinn trotzig in die Luft. »Sie müssen mich