Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger

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Bahnhofstrasse - Andreas Russenberger

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Handbewegung auf den grünen Spielteppich.

      Philipp atmete laut aus. »Nein, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt schnappen die uns den Sieg vor der Nase weg.« Resigniert spielte er seine Karte.

      Vincent, Martins Spielpartner, ballte seine freie Hand euphorisch zu einer Becker-Faust. »Endlich! Ich habe schon geglaubt, nur die anderen beiden schnorren ihre Punkte heute Abend … Aber Qualität setzt sich eben langfristig immer durch. Auch beim Jassen!«

      Er knallte seine Karte genussvoll auf den Tisch, und Armand, der Vierte im Bunde, folgte ihm, wenngleich weniger theatralisch.

      »So, das sollte reichen«, griente Vincent zufrieden. Er zählte sorgfältig die Punkte auf der schwarzen Schiefertafel zusammen und blickte triumphierend in die Runde. »Geschafft! Meine Herren, viel Spaß beim Abwaschen!«, sagte er schadenfreudig.

      »Stopp, stopp, stopp. Nicht so eilig«, intervenierte Armand mit ruhiger Stimme, fast schon staatsmännisch. »Ich will ja nicht den Spielverderber geben, aber hier und heute gilt doch die Regel: ›Stöck, Stich, Wyss‹ – oder habe ich mich da vor fünf Stunden verhört?«

      Er versuchte, seine Euphorie zu unterdrücken, was ihm misslang. Er strahlte über das ganze Gesicht. Der Staatsmann war dem Kinde im Mann gewichen. Vincent sah ihn ungläubig an und rechnete nach. Seine Mundwinkel zeigten gegen Süden. Sein Körper verlor an Spannung und sank leicht nach vorne, als wollte er Abbitte leisten. Die Euphorie war so rasch verschwunden, wie sie gekommen war.

      »Das darf nicht wahr sein. Sag mir, dass das nicht wahr ist. Bitte!«, flehte Vincent seinen Freund an.

      Doch alles Bitten half nichts. Armand hielt den Trumpfkönig und den passenden Ober in die Luft, was zum Sieg reichte. Er bedankte sich nun seinerseits, was beim Jassen so viel bedeutet wie: »Wir haben gewonnen!«

      Philipp und Armand sprangen auf und klatschten sich ab. Nur wer mit dem traditionellen Schweizer Kartenspiel vertraut ist, kann diese spontane Emotion nachvollziehen. Am ehesten ist sie vergleichbar mit dem Siegestor in letzter Sekunde bei der Fußballweltmeisterschaft. Obwohl das Glück einen maßgeblichen Einfluss auf das Spiel hat, ähnlich wie beim Fußball, wo oft lediglich Zentimeter über Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage, ewigen Ruhm oder Depression und dies notabene einer ganzen Nation entscheiden – also trotz oder vielleicht gerade wegen all dieser Zufälligkeiten, die man sicherlich mit Können und geschickten strategischen Winkelzügen beeinflussen kann –, ist für einen eingefleischten Kartenspieler an einem kompetitiven Abend nichts so wichtig wie der Sieg. Ein Sieg, der zu genau diesem Zeitpunkt alles andere in den Schatten stellt – Karriere, Familie, Stress, Probleme jeglicher Art – und der sich in ebendieser kurzen Euphorie entlädt, die von der Dauer her in etwa mit einem Feuerwerksvulkan mittlerer Größe (Modell Everest) vergleichbar ist.

      Nachdem diese Zeit verstrichen war, zeigten sich Vincent und Martin – beides enge Freunde Philipps aus der gemeinsamen Studienzeit – als gute Verlierer und machten sich zügig an den Abwasch, wobei die größte Arbeit die Spülmaschine übernahm, die nichtsdestotrotz sorgfältig gefüllt werden musste.

      Währenddessen schenkte Philipp sich und Armand den letzten Schluck Guado al Tasso ein. Die drei leeren Flaschen zeugten von einem gemütlichen Abend im Freundeskreis und hatten das Rinderfilet mit Risotto perfekt begleitet. Der Kartenabend fand heute turnusgemäß bei Philipp zu Hause statt. Da er der beste Koch der Männerrunde war und sich bei der Weinauswahl nie lumpen ließ, war dieser Anlass für sie ein Jahreshighlight. Sophie und die Kinder hatten den Abend in den anderen Räumen des großzügigen Hauses verbracht.

      Armand hielt seinem Freund eine Zigarette hin, und die beiden gingen in den Garten hinaus, um im Schutz der Lounge zu rauchen. Armand trat kurz ans Küchenfenster, klopfte und hob jubelnd die Arme in die Höhe. Vincent quittierte, über die Spülmaschine gebückt, mit dem Wetzen von zwei Fleischmessern.

      »Lass es gut sein, Armand, sonst macht unser Vinc heute Abend kein Auge zu.«

      Philipp öffnete nochmals die Verandatür, um den Beagle rauszulassen, der an der Scheibe gekratzt hatte. Philipp erinnerte sich gerne daran, wie er die kleine Bella vor einigen Jahren im Appenzellerland zum ersten Mal gesehen hatte. Diese Rasse sei, so die Leiterin des Tierheims, ausgesprochen familienfreundlich, intelligent und treu. Bella im Speziellen sei immer fröhlich, spielbereit und pflege einen äußerst harmonischen Umgang mit ihrem Herrchen. Sogar von einer unglaublichen Problemlösungskompetenz war die Rede. Alle Attribute stellten sich als wahr heraus, einmal abgesehen von der Problemlösungskompetenz. Bella war jedenfalls zu einem festen Bestandteil der Familie geworden. Das nasskalte Wetter behagte der alten Hundedame wenig, sodass sie nach einem kurzen Abstecher ins Gras sogleich wieder in die warme Stube verschwand.

      »Schwupp und weg. Schläft neuerdings bei unserem Jungen im Bett. Dort hören sie zum Einschlafen zusammen die Geschichten der Drei ???. Wir haben den Widerstand aufgegeben. Chancenlos.«

      »In meinem nächsten Leben wäre ich auch gerne ein Hund. Aber nur bei euch. Fressen, saufen, schlafen, ein bisschen die Beine vertreten und rund um die Uhr verwöhnt werden. Und zum Einschlafen dann sogar noch Justus, Peter und Bob! Was will man mehr …«

      Philipp lachte laut auf. Er hielt die Zigarette in der hohlen Hand, um sie vor dem Wind zu schützen, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in den trüben Nachthimmel.

      »Gehe ich recht in der Annahme, dass du und Verena nach wie vor Stress habt? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum du sonst aus einem Napf unter meinem Tisch fressen willst.«

      Ein trauriges Lächeln huschte über Armands Gesicht. Er blickte gedankenverloren auf die andere Seeseite. Nur wenige Lichter brannten um diese Zeit, sodass sich dunkle Löcher in die exklusiven Hügel der Goldküste fraßen.

      »Gut geraten, Sherlock. Ich glaube, Verena wird mich verlassen. Vielleicht hat sie das schon getan und ich habe es einfach nicht gemerkt. Wer kann es ihr verdenken? Sie hat sich in einen Priester verknallt und einen Bullen bekommen. Früher habe ich den armen Teufeln die Beichte abgenommen, heute jage ich sie.«

      Philipp suchte nach tröstenden Worten für seinen Freund. Den Gemeinplatz, dass jede zweite Ehe geschieden werde und die Trennungsquote von unverheirateten Paaren wie bei ihnen noch wesentlich höher liege, nahm Armand schweigend zur Kenntnis. Auch die Vorschläge, es mit einer längeren gemeinsamen Reise zu versuchen, hellten seine Stimmung nicht auf. Trübsinnig fuhr er fort.

      »Als wir uns in meiner Priesterzeit kennenlernten, hat Verena etwas in mir gesehen, etwas in mich hineininterpretiert, was ich nun mal nicht bin. Vielleicht hat auch das Verbotene damals einen gewissen Reiz ausgeübt. Gereist sind wir übrigens zur Genüge: Argentinien, Kanada, Japan, Paris, Rom, London, Lissabon … Du hast mich ja finanziell gut unterstützt.«

      Philipp wiegelte ab. Die Sache mit der Tasche hatte ihr erstes gemeinsames Abenteuer beendet. Philipp hatte sich damals bei Armand großzügig für dessen Hilfe bedankt. Mit einer Sporttasche – gefüllt mit Tausendernoten. Die beiden Freunde sprachen selten darüber. Eine informelle Abmachung.

      »Versteh mich richtig, Philipp, Verena und ich werden hoffentlich Freunde bleiben. Aber unsere Beziehung hat keine Zukunft. Sie muss ihr Leben neu sortieren und ich meines.«

      Sie standen eine Weile still unter dem Vordach und lauschten dem Geschirrgeklapper in der Küche.

      »Genug Trübsal geblasen«, sagte Armand und drückte seine Zigarette im Gras aus. »Wie geht es der Familie? Die haben sich ja gut versteckt heute.«

      Philipp nickte schmunzelnd. »Gut erzogen halt.« Dann drückte er seine fast runtergerauchte Zigarette ebenfalls

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