Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger

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Bahnhofstrasse - Andreas Russenberger

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Büro wenden. Die Kontaktnummer werden wir Ihnen zukommen lassen. Jetzt sollten Sie sich aber beeilen, in wenigen Minuten beginnt Ihre Vorlesung.«

      Nach einem Blick auf die Uhr blieb Philipp keine Zeit mehr, auf den geschickten Schachzug der Rektorin zu reagieren. Er griff nach seinen Unterlagen und eilte davon.

      War er gerade über den Tisch gezogen worden?

      Der Vorlesungsraum war zum Bersten voll. Das ganze Ausmaß wurde ersichtlich, als sich Philipp zum Rednerpult durchgekämpft hatte. Der Raum war maßlos überfüllt, vollgestopft wie ein Pendlerzug in Mumbai. Am Eingang hatte sich bereits ein längerer Rückstau gebildet. Die Scheiben waren von innen angelaufen und die Luft war feucht wie in einer Waschküche. Der Sauerstoffpegel lag deutlich unter dem Lärmpegel. Philipp konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen – die Menschenansammlung war seine Rettung. Unter solchen Umständen war an eine reguläre Durchführung der Vorlesung gar nicht zu denken. Er breitete die Arme aus, wie Jesus bei der Bergpredigt. »Guten Morgen. Ich muss Sie leider enttäuschen. Die Autogrammstunde von George Clooney wurde abgesagt. Hier wird nun stattdessen die Vorlesung ›Geschichte der Schweizer Banken seit 1945‹ abgehalten.«

      Schallendes Gelächter.

      »Nun gut. Ein Versuch war es wert. Aber ich möchte Sie dennoch warnen. Grundlage meiner Vorlesung ist dieses Buch.« Philipp hob seine soeben veröffentlichte Forschungsarbeit in die Höhe. »500 Seiten. Trocken wie ein alter Zwieback.« Er legte den Schmöker vor sich auf das Pult und fuhr fort. »Ich freue mich natürlich außerordentlich über das rege Interesse an meiner Forschung. Mit diesen prekären Platzverhältnissen können wir heute allerdings keine reguläre Vorlesung abhalten. Ich werde versuchen, bis nächste Woche einen größeren Raum zu organisieren. Lesen Sie bis dahin die ersten beiden Kapitel meines Buches. Sie können es kostenlos auf der Webseite meines Instituts herunterladen.«

      Anerkennendes Klopfen. Philipp klemmte sich seine Sachen unter den Arm und blickte dann nochmals ins Plenum. »Die zwei Kapitel beleuchten die Entstehung des Finanzplatzes. Ich lege in meinen Vorlesungen und Seminaren großen Wert auf ein profundes Verständnis der historischen Zusammenhänge. Man lebt das Leben zwar vorwärts, aber verstehen kann man es nur rückwärts. Ich wünsche allen einen guten Semesterstart.«

      Philipp atmete erleichtert aus. Er konnte noch nicht ahnen, was auf ihn zukommen würde. Vorwärts gesehen.

      Der Auftraggeber

      »Hat er angebissen?« Seine Stimme klang tief und weich, wie eine Felldecke.

      »Ja«, sagte die Rektorin. »Aber genau genommen habe ich zugebissen.«

      »Gut, wir bleiben in Kontakt.« Er beendete zufrieden das Telefongespräch. Fries war zuverlässig. Wobei das bei der Summe, die er in Aussicht stellte, zu erwarten gewesen war. Er erhob sich aus seinem imposanten Bürosessel und drückte den Rücken durch. Die Schmerzen waren an diesem Morgen fast unerträglich. Die Bandscheibe und das schlechte Wetter – eine unheilvolle Allianz. Trotzdem fühlte er sich wohl in seiner Haut. Er hatte gelernt, mit dem Leiden umzugehen, und wollte es mittlerweile nicht mehr missen. Die Schmerzen waren das untrügliche Zeichen, dass er noch am Leben war. Nichts setzte so viel Adrenalin im Körper frei. Außer vielleicht Todesangst, das reinste Doping. Und wenn man in seinem Leben so viele Stresshormone durch den Körper gejagt hatte wie Alexander von Werdenberg, konnte man schon süchtig danach werden. Sorgfältig entfernte er einen Fussel am Ärmel seinen Jacketts, zupfte das weiße Einstecktuch zurecht und goss sich dann zufrieden ein Glas trockenen Sherry ein. Alles lief nach Plan.

      Bis jetzt.

      Bahnhofstrasse

      Zürich, 17. September

      Schon am nächsten Nachmittag stand Philipp an der Bahnhofstrasse und betrachtete den Eingang der Privatbank von Werdenberg. Zwischendurch ratterte eine der blau-weißen Trams vorbei und versperrte ihm für kurze Zeit die Sicht. Der geheimnisvolle Bankier hatte ihn bei ihrem Telefongespräch freundlich gebeten, gleich wenige Stunden später zu ihm ins Büro zu kommen. Der Hauptsitz der Bank lag, wie nicht anders zu erwarten, an der Straße mit den teuersten Uhren der Welt. Mit dem Einzug der beliebigen Kleiderketten und den weltweit bekannten Marken war die Exklusivität der 1,4 Kilometer langen Bahnhofstrasse zwar verschwunden, aber die gediegene Architektur und das schöne Panorama, vor allem dort, wo sich die Sicht auf den See und die Berge zu öffnen begann, waren geblieben.

      Philipp betrachtete interessiert die Fassade des stattlichen Gebäudes, das die Privatbank von Werdenberg beherbergte. Vielleicht hatte hier vor hundert Jahren eine wohlhabende Familie gelebt, die ihr Geld in der Industrie gemacht hatte? Wer weiß. Heute gehörten die Gebäude an der Bahnhofstrasse Banken, Versicherungen, ausländischen Konsortien und vermehrt auch Pensionskassen, die ihr Geld im Betongold anlegten.

      Philipp war früh dran und flanierte ein wenig durch die Gegend, die lange Zeit seine Heimat gewesen war. Es fühlte sich seltsam fremd und sogar etwas einsam an, wie wenn man nach vielen Jahren einen alten Freund wiedersieht und sich nichts mehr zu sagen hat. Philipp überquerte den fast menschenleeren Bürkliplatz. Die Mittagspause war schon vorbei und der Feierabend stand erst noch vor der Tür. Die meisten der kaufmännisch Angestellten arbeiteten also gerade oder taten zumindest so. Ein junges Elternpaar war mit seinen Kindern unterwegs, ein Hund schnupperte an einem Hydranten und wollte sich von seinem Herrchen partout nicht zum Weitergehen überreden lassen. Ein asiatisches Paar begutachtete die Einkäufe. Zwei Rentner genossen nach dem verregneten Wochenstart die milden Temperaturen auf einer Parkbank und unterhielten sich ruhig mit lauter Stimme. Das Gespräch drehte sich um die Misere eines Zürcher Fußballklubs. Philipp lächelte – sein Sohn David besaß ein Trikot des Rekordmeisters.

      Am Seebecken blinzelte Philipp in die Sonne und genoss das herrliche Panorama. Die Berge schienen an diesem föhnigen Tag wie gemalt und zum Greifen nah. Der See roch nach Wasser mit einer Prise Tang. Laute Musik wummerte aus einem vorbeifahrenden Auto. Möwen kreischten und missgönnten sich jede Brotkrume.

      Sehr menschlich, diese Tiere.

      Philipp entschied sich, einen Kaffee im Hotel Storchen zu sich zu nehmen, und ging zum Weinplatz hinunter. Da Zürich durch keinen der großen Kriege versehrt worden war, konnte das Hotel Storchen auf eine über 600-jährige Geschichte zurückblicken. Es hatte schon illustre Persönlichkeiten wie Richard Wagner oder Grimmelshausen beherbergt. Dank des schönen Wetters und der milden Temperaturen standen einige Tische vor dem Hotel auf dem Weinplatz. Philipp setzte sich auf einen freien Platz und bestellte eine Tasse Kaffee. Genüsslich zog er die frische Luft tief in seine Lungen. Er überlegte kurz, sich eine Zigarette anzuzünden, ließ dann aber davon ab. Er wollte bei seinem ersten Treffen mit von Werdenberg nicht nach kaltem Rauch stinken. Stattdessen studierte er die Gegend und ließ die Seele baumeln. Das Grossmünster präsentierte sich auf der anderen Flussseite unter dem strahlenden Himmel in seiner ganzen Pracht und die beiden blau-weißen Fahnen auf den charakteristischen Doppeltürmen bewegten sich sanft im Wind. Philipp glaubte fast, ihr Flattern zu hören. Die Kirche soll der Legende nach von keinem Geringeren als Karl dem Großen gegründet worden sein. Und heute war Kaiserwetter. Postkartenidylle.

      Vor dem Hotel herrschte Fahrverbot. Eigentlich. Ein Elektroradfahrer schoss ohne Rücksicht auf Verluste in halsbrecherischem Tempo an den Fußgängern vorbei. Er war dabei so auf die Beherrschung seines Gefährts konzentriert, dass er die eindeutige Geste des Kellners, den er beinahe überrollt hatte, nicht bemerkte. Die militanten Radfahrer waren zu einer regelrechten Plage geworden, fand Philipp. Was ihn vor allem ärgerte, war deren heuchlerische Selbstgerechtigkeit, das Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber allen, die sich anders fortbewegten. Dabei bleibt ein Idiot ein Idiot, egal ob er im Auto, auf einem Fahrrad oder sonst wo sitzt. Die Szene war aber in dem Moment schon wieder Geschichte, als Philipp den

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