Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger
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Von Werdenbergs Tochter reagierte souverän. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Professor Humboldt. Wir lassen Sie jetzt in der Obhut meines Vaters. Sie haben sicher einiges zu besprechen.« Sie drückte den Knopf des Personenaufzuges. Julia von Werdenberg hielt offensichtlich wenig von Smalltalk.
Sehr sympathisch.
Sie verabschiedeten sich und Philipp betrat mit von Werdenberg den Lift. Der Patron hielt eine Karte an den Sicherheitssensor und drückte auf den Knopf neben der Aufschrift »Privat«. Danach verschwanden die Damen hinter der Fahrstuhltür, die sich mit einem sanften Summen schloss.
Der Privatraum des Firmenchefs beherbergte eine stattliche Bibliothek. Die schwarzen Regale mit den glänzenden Chromstahlverstrebungen waren perfekt auf das moderne Design des Raumes abgestimmt. Von Werdenberg war offensichtlich jemand, dem die Details wichtig waren. Er schätze hier oben, hoch über der hektischen Bahnhofstrasse, die Kraft der Ruhe, erklärte von Werdenberg. Das habe nichts mit seinem Alter zu tun, schob er rasch nach. Schon zu Beginn seiner Karriere habe er Menschenansammlungen nach Möglichkeit gemieden. Diesen Wunsch nach Diskretion teile er mit vielen seiner Kunden. Leider hätten in letzter Zeit eitle Selbstinszenierung und schlechte Manieren die Oberhand gewonnen. Er selbst habe sich immer an den Maximen orientiert, die Marc Aurel in seinen Aphorismen formuliert habe: hart an sich arbeiten und die einem auferlegten Pflichten erfüllen. Er ging zur Bücherwand, die sicher einige hundert Werke umfasste, und winkte Philipp zu sich. Mit sichtlichem Stolz wies er darauf. »Alles Erstausgaben. Einige datieren bis ins Mittelalter zurück.«
Philipp war ehrlich beeindruckt. »Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Sammlung angelegt?«
Von Werdenberg nickte zufrieden. »Endlich jemand, der die richtigen Fragen stellt und nicht mit irgendwelchen Gemeinplätzen seine Unwissenheit zu kaschieren versucht.« Beinahe zärtlich strich er mit der Hand über die ledernen Buchrücken. »Der Schwerpunkt der Sammlung befasst sich mit den verschiedensten Aspekten der Macht und des Bösen. Ein erfolgreicher Manager, der nicht mindestens einmal Machiavelli gelesen hat? Undenkbar. Ein CEO, der nicht mit den Schattenseiten des Lebens Erfahrungen gesammelt hat? Unwahrscheinlich.« Der Patron war in seinem Element. Sei es denn nicht die Kraft und die Vitalität des Bösen, die uns Menschen fasziniere? Hätten nicht alle eine dunkle Seite in sich, der man nur zu gerne einmal Auslauf gewähren würde? Wer wolle nicht aus den tristen Routineabläufen ausbrechen, die einem von Kindesbeinen an durch Eltern, Schule, Staat und Kirche vorgegeben würden? Die Beschäftigung mit dem Bösen bedeute doch nur, dass man sich selbst auf der Spur sei. Man stelle sich Faust ohne Mephisto vor oder den Fledermausmann ohne den Joker. Kafka habe mit Fug und Recht behauptet, dass das Gute allein trostlos sei. »Aber verzeihen Sie, Herr Professor. Ich langweile Sie sicher mit dem dummen Geschwätz eines alten Mannes.«
Philipp war elektrisiert. Er hatte den Ausführungen von Werdenbergs nichts hinzuzufügen. Jeder hat seine dunkle Seite, niemand wusste das besser als er selbst. Philipp zeigte sich als guter Zuhörer. »Nein, Sie langweilen mich gar nicht, im Gegenteil. Ich muss gestehen: Machiavelli habe ich mehrmals gelesen. Bücher haben mich immer fasziniert. Schon mein Deutschlehrer am Gymnasium hat uns geraten, niemandem zu trauen, dessen Fernseher größer ist als die Bibliothek.«
Der Patron lachte herzhaft.
Damit war das Thema abgehakt. Von Werdenberg setzte sich ohne weitere Worte in einen modernen italienischen Designerstuhl und wies Philipp an, ebenfalls Platz zu nehmen. Er goss beiden einen Whiskey ein und trank nach britischer Manier, ohne anzustoßen. Das Getränk roch nach Torf und Holz. Das lodernde Feuer in von Werdenbergs Augen war verschwunden und professioneller Nüchternheit gewichen. Der Verkauf seines Lebenswerks an die Zürcher Investment Bank sei für ihn, so von Werdenberg, nach langer Überlegung die beste Lösung. Er wolle »die vom Paradeplatz« aber noch etwas zappeln lassen und den Preis in die Höhe treiben. Die Schallgrenze von einer Milliarde Schweizer Franken sei durchaus realistisch. Er zeigte sich jetzt als der knallharte Geschäftsmann, der er war. Das Geld sei ihm so wichtig, weil der größte Teil des Erlöses in die Stiftung seiner Tochter fließen solle. Eine fundierte Publikation über sein Unternehmen käme ihm und vor allem seiner Tochter gelegen.
»Sie sehen also, Herr Professor, ich will etwas Positives hinterlassen. Es geht um nichts Geringeres als mein Vermächtnis.« Von Werdenberg machte eine kurze Pause und drückte den Rücken durch. »Meine Tochter will das Familienunternehmen nicht weiterführen. Nicht aufgrund fehlender Fähigkeiten, sondern weil sie andere Interessen hat. Das Sein war für sie schon immer wichtiger als das Haben. Ganz die verstorbene Mutter. Ich muss den letzten Schritt nun initiieren, solange ich den Prozess noch selber in der Hand habe. Ich konnte mich bis jetzt auf meine robuste Gesundheit verlassen, aber machen wir uns nichts vor. Ich bin in einem Alter, in dem man bei jeder Todesanzeige unwillkürlich auf den Jahrgang des Verstorbenen blickt.«
Es wurde kurze Zeit still wie in einem vollbesetzen Wartezimmer. Dann nahm von Werdenberg den Faden wieder auf. »Bitte erzählen Sie mir doch einmal, warum Sie vor vier Jahren die Zürcher Investment Bank als CEO verlassen haben. Ihr mutiger Schritt hat für einigen Wirbel gesorgt auf dem Bankenplatz. Gibt es irgendwelche Leichen im Keller der Bank, von denen ich wissen müsste?«
»Nein, es sind keine Leichen begraben«, log Philipp, ohne zu zögern. »Die Zürcher Investment Bank ist kerngesund«, ergänzte er wahrheitsgetreu. »Ich wollte damals aus meiner Komfortzone ausbrechen. Etwas Neues ausprobieren, Adrenalin spüren, spannende Dinge lernen. Und vor allem mehr Zeit für meine Familie haben. Bereut man dereinst nicht die Dinge, die man nicht getan hat?«
Von Werdenberg nickte kaum wahrnehmbar. »Sie haben so recht, mein lieber Professor. Die meisten Menschen kleben in ihrer Komfortzone wie die Fliege im Netz. Und erst die Ausreden, warum man nicht das Leben führen kann, von welchem man als Kind geträumt hat: Immer ist es gerade zu heiß, zu kalt, zu früh, zu spät, zu einfach oder zu kompliziert, um sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.«
Eine Frage brannte Philipp unter den Nägeln: »Warum ist Ihre Wahl auf mich gefallen? Es gibt sicher Professoren und Journalisten, die mindestens so gut, wenn nicht sogar besser für die Aufgabe geeignet wären.«
Von Werdenberg zögerte keine Sekunde mit der Antwort. »Sie kennen die Zürcher Investment Bank und deren Führungsetage wie kein Zweiter. Ich kann mir beim besten Willen keinen idealeren Sparringspartner vorstellen. Und als ehemaliger Topmanager können Sie mit Zeitdruck umgehen. Die Arbeit muss Ende Januar fertiggestellt sein. Besser schon früher. Wir wollen ja nicht den Pulitzer-Preis gewinnen.«
Philipp legte die Stirn in Falten. »Das wird sehr knapp werden.«
Von Werdenberg machte deutlich, dass der Termin nicht verhandelbar sei. »Alle Informationen liegen auf dem Tisch. Wir werden uns so oft treffen, wie Sie es für nötig halten. Bei diesen Meetings werde ich Ihnen alle Fragen beantworten. Ihr Team wird Zugang zu meinem Bankarchiv erhalten. Wir haben bereits viele Unterlagen aufgearbeitet. Alle bekannten Hintergrundinformationen findet man in den üblichen Pressearchiven. Darüber hinaus werden wir Ihnen ja Frau Loppacher zur Seite stellen. Sie werden von ihr begeistert sein. Und Sie haben sicher einen Assistenten, den Sie abkommandieren können. So werden Sie in kurzer Zeit ein Manuskript verfassen. Ich besitze einen eigenen Verlag in Deutschland, der die Abschlussarbeiten übernehmen wird. Ich will das Projekt vorantreiben, solange ich noch kann. Jeder stirbt an einem Tag.«
»Aber an allen anderen nicht«, dachte Philipp laut.
»Schön gesagt! Von wem ist dieser Satz? Shakespeare?«
»Nein. Snoopy …«, antwortete Philipp trocken.
Von Werdenberg hob die Augenbrauen und zögerte einen Moment. Dann lachte er schallend und nahm einige Dokumente