Bahnhofstrasse. Andreas Russenberger
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»Und der kleine Wildfang?«
Philipp atmete laut aus und schnorrte vor der Antwort eine weitere Zigarette von Armand. Ratlos zog er die Schultern und Augenbrauen hoch. »David kommt definitiv nach mir! Mit neun ist er natürlich noch voll in der Persönlichkeitsentwicklung. Er steht sich manchmal selbst im Weg und ist unkontrollierbar wie eine V2-Rakete. Er hat zwei Gesichter. Einmal farbig, dann wieder schwarz-weiß, wie die Seiten bei den alten Micky-Maus-Taschenbüchern. Neulich hat er den Sohn des Dorfmetzgers verdroschen, der notabene einen Kopf größer ist als er selbst. Anscheinend hat der Junge unsere Michelle auf dem Schulhof gehänselt, und das kann David nicht leiden. Weckt seinen Beschützerinstinkt.«
»Ist doch super, wenn er seine Schwester verteidigt«, sagte Armand und versuchte, sein Patenkind in Schutz zu nehmen.
»Schön und gut. Aber deshalb muss man ja nicht gleich zuschlagen. Weißt du, was er zu dem Metzgersohn gesagt hat, als dieser mit blutiger Nase unter ihm am Boden lag? Ob es denn gern noch ein bisschen mehr sein dürfe …«
Sie mussten laut lachen. Die Erinnerungen an die Metzgereibesuche in ihrer eigenen Jugendzeit waren noch sehr präsent. Armand klopfte seinem Freund auf den Rücken.
»Mach dir mal keine Sorgen, das wird alles gut mit dem Kleinen. Und sonst hat er ja einen strengen Patenonkel! Apropos Sorgen.« Armand dämpfte die Stimme. »Mir gefällt dein neuer Nebenjob bei dieser Werdenberg Bank überhaupt nicht. Als du vor einigen Jahren die Zürcher Investment Bank verlassen hast, war das der richtige Schritt zum idealen Zeitpunkt. Du führst jetzt das Leben, das du immer wolltest. Warum etwas riskieren? Lass deine Vergangenheit hinter dir. Ich habe echt ein ungutes Gefühl. Es ist gefährlich, in trüben Gewässern zu fischen, man weiß nie, was man an Land zieht.«
Philipp hatte geahnt, dass sein Freund ihm bei der erstbesten Gelegenheit ins Gewissen reden würde. Armand war es damals gelungen, Philipp zu helfen, seine Dämonen zu kontrollieren. Philipp hatte ihn dafür aus der scheinheiligen Welt der Engel befreit, in der er sich als Priester bewegt hatte. Daraus war eine tiefe Freundschaft entstanden. Er vertraute seinem Freund blind. Beide hatten den Schritt aus ihrer Komfortzone gewagt und ihr Outfit getauscht – Philipp den Anzug gegen die Tweedjacke und Armand den Talar gegen die Polizeiuniform. Die Kriminalpolizei Zürich hatte ihren ehemaligen Beamten gerne wieder aufgenommen, trotzdem musste sich Armand wegen seines Abstechers in die klerikale Welt so einige Sprüche anhören.
Die zwei Freunde betrachteten eine Weile die Lichter auf der gegenüberliegenden Seeseite. Die Löcher in der weihnachtlichen Lichterkette waren noch größer geworden. Philipp versuchte, seinen Freund zu beruhigen.
»Ich habe mir das Projekt nicht ausgesucht. Die Rektorin hat mir sozusagen die Pistole auf die Brust gesetzt. Aber die Vorteile sprechen für sich. Die Universität bekommt ein riesiges Legat und ich mein eigenes Institut. Das ist eine einmalige Gelegenheit, bei der ich einfach zugreifen muss. Und vor allem geht es bei diesem Projekt ja nicht um meine Vergangenheit, sondern um die der Familie von Werdenberg. Da wird schon nichts passieren. Alexander von Werdenberg ist ein Patron alter Schule, der könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber ich werde vorsichtig sein. Versprochen.« Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Und glaub mir, ich habe nicht vor, die alten Geister wiederauferstehen zu lassen.«
Armand nickte nachdenklich, war allerdings nicht wirklich beruhigt. »Vielleicht habe ich auch eine kleine Paranoia entwickelt, seit ich wieder bei der Polizei bin. Déformation professionnelle. Ich habe mich jedenfalls ein bisschen umgehört und außerdem meine Assistentin auf die Privatbank von Werdenberg angesetzt.«
»Und?«
»Die Bank scheint tatsächlich nie in große Skandale verwickelt gewesen zu sein. Keine Bußen wegen Geldwäsche, keine Berichte über nachrichtenlose Vermögen, keine Kartellabsprachen. Einzig im Zusammenhang mit einigen verschwundenen Personen ist sie indirekt erwähnt worden.« Armand legte eine Kunstpause ein. Mit Erfolg.
»Das musst du mir erklären«, sagte Philipp prompt.
»Meine Assistentin ist nicht nur Profilerin, sondern auch ein richtiger Computerfreak. Sie ist zufällig darauf gestoßen, als sie alle Personen, die im Zusammenhang mit der Bank von Werdenberg irgendwo elektronisch erfasst sind, mit unserer Datenbank bei der Kriminalpolizei abgeglichen hat. Frag mich bitte nicht, wie sie das gemacht hat. Auf jeden Fall sind zwischen 1980 und 2016 vier vermögende Personen spurlos verschwunden, die als großzügige Spender bei der Werdenberg Stiftung verdankt worden sind. Wahrscheinlich hat das nichts mit der Bank zu tun. Jedenfalls wurden die Fälle damals von den jeweiligen Staatsanwaltschaften untersucht, die Erben bekamen ihr Geld und es gab keine Verdachtsfälle irgendwelcher Art gegen die Bank. Wo kein Motiv, da keine Tat. Lektion eins in der Polizeischule.«
Philipp schüttelte den Kopf. »Multimillionäre und Milliardäre können exzentrisch sein. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Muss wirklich nichts bedeuten. Vielleicht wurden sie von ihren korrupten Regimen aus dem Weg geräumt und leben heute irgendwo in der sibirischen Tundra.«
Armand lachte. Die Unbeschwertheit seines Freundes hatte ihn beruhigt. »Wenn es dir recht ist, werde ich weiterhin die Ohren offenhalten. Nur für den Fall, dass dieser von Werdenberg doch etwas im Schilde führt.«
Die Freunde nickten sich zu und gingen wieder ins Haus. Im Wohnraum zog sich Vincent gerade seine Jacke über. Martin und Armand taten es ihm gleich. Armand klopfte Vincent dabei kräftig auf den Rücken.
»Glück im Spiel, Pech in der Liebe – oder umgekehrt. Ich gehe jetzt in meine verwaiste Bude und Vincent zu seinem Unterwäschemodel.«
Der Angesprochene griente über beide Ohren. »Und weißt du, was das Beste ist? Sie schläft nie in ihrer Arbeitskleidung.«
Lachend verabschiedeten sie sich von ihrem Gastgeber.
Philipp hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und unvernünftigerweise noch eine Flasche Wein geöffnet. Er wusste, dass er es am nächsten Tag bereuen würde. Bereits der letzte Schluck war einer zu viel gewesen und der davor ebenfalls. Aber es ging ihm zu viel durch den Kopf. Ruhig schwenkte er die dunkle Flüssigkeit in dem tiefen Glas und sog den würzigen Duft ein. Die letzten Jahre waren die glücklichsten in seinem Leben gewesen. Obwohl viel passiert war und seine Kinder unglaublich schnell heranwuchsen, spürte Philipp ein behagliches Gefühl von Zeitlosigkeit, als wenn sein Leben immer so bleiben würde. Es ging stetig bergauf, vorwärts. Sein Rucksack füllte sich mit Erfahrungen und Eindrücken, positiven und negativen, wurde dabei jedoch auf seltsame Weise leichter. Philipp war dankbar für sein Leben. Nicht auf eine religiöse Art und Weise, es war einfach nur eine tief empfundene Zufriedenheit, sein Glück auch als solches wahrzunehmen und sich nicht an unbedeutenden Kleinigkeiten aufzureiben. Neid oder Unzufriedenheit hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt. Konnte man sich das antrainieren oder wurde einem diese Gabe in die Wiege gelegt? Philipp wusste es nicht.
Er nahm einen großen Schluck Rotwein. Seine Gedanken schweiften zur Privatbank von Werdenberg. Philipp hatte die Bankenwelt mit ihren Statussymbolen und Eitelkeiten nie vermisst und die Kontakte seiner alten Netzwerke über die Zeit einschlafen lassen. Alle seine Erinnerungen lagen im Keller in einer kleinen Kartonschachtel: Visitenkarten mit seinen vielen Beförderungsstufen, Präsentationen aus der Anfangszeit, Erinnerungsstücke von exotischen Geschäftsreisen, einige Werbegeschenke. Dennoch freute er sich auf das zeitlich beschränke Projekt in seinem alten Milieu. Er hatte der Bankenwelt schließlich einiges zu verdanken, was