Kommunikations- und Mediengeschichte. Mike Meißner
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Die Entwicklung der gesellschaftlichen Kommunikation und der dazu genutzten Medien wird in der Literatur auf unterschiedliche Art in Phasen eingeteilt. Helmut Schanze z. B. unterteilt seine Darstellung einer »integrale[n] Mediengeschichte« in »Antike«, das »Zeitalter der Typographie (1500-1800)«, das »Zeitalter der neuen Graphien. Vom Telegraphen zum Kinematographen (1800-1900)«, das »Zeitalter der Audiovisionen (1900/1925-1985)« und das »Zeitalter der Digitalmedien« (2001: 207ff.). Darin zeigt sich eine starke Orientierung an technischen Entwicklungen, obwohl der Autor betont, dass Mediengeschichte sich nicht allein »am Fortschritt der Medientechnologie« orientieren könne (ebd.: 208).6 Insofern erscheint eine solche Einteilung wenig befriedigend.
Jürgen Wilke konstatiert darüber hinaus, dass auch eine Orientierung an allgemein »zeitgeschichtliche[n] Periodisierungen« problematisch sein kann (1999: 19).7 Dies kann anhand der »globale[n] Phasen« der »gesellschaftlichen Evolution« des bekannten Soziologen Niklas Luhmann veranschaulicht werden. Mit diesen Phasen möchte er u. a. zeigen, »wie gesellschaftliche Evolution mit Veränderungen in den Kommunikationsweisen« zusammenhängt (1975: 13). Eine erste Phase stellen demnach »[a]rchaische Gesellschaftssysteme« (ebd.) dar, gekennzeichnet durch Interaktion unter Anwesenden. Letztere entspricht grundsätzlich der Versammlungskommunikation, die im vorliegenden Buch ebenfalls als Ausgangspunkt der Entwicklung und entsprechend als grundlegende Kommunikationsweise einer ersten Phase der Kommunikationsgeschichte betrachtet wird. Luhmanns zweite Phase »gesellschaftliche[r] Evolution« bilden »städtisch zentrierte Hochkulturen« (ebd.), die von Schrift gekennzeichnet sind. Letztere war, mit Blick auf die Kommunikationsgeschichte, tatsächlich eine wichtige Innovation, führte jedoch allein noch nicht zu einem entscheidenden Wandel der zentralen gesellschaftlichen Kommunikationsweise (siehe Kap. 3.1). Die Versammlungskommunikation blieb auch in diesen Hochkulturen noch lange grundlegend. Diesbezüglich erscheint es sinnvoller, eine neue kommunikationsgeschichtliche Phase später anzusetzen: dann, als sich – aufgrund weiterer neuer Voraussetzungen bzw. Innovationen – die »dominierenden Kommunikationsweisen« (ebd.: 16) tatsächlich veränderten. Zumal Luhmann selbst darauf hinweist, dass die »Phasenfolge […] nicht einfach als Prozeß der Verdrängung und der Substitution« einer Kommunikationsweise durch eine andere verstanden werden dürfe, sondern dass es vor allem um das Dazukommen von »voraussetzungsvolleren Formationen« gehe, »die dann die Bedingungen des Möglichen neu definieren« (ebd.: 18). Eine dritte Phase gesellschaftlicher Entwicklung stellt nach Luhmann die »Weltgesellschaft« mit den Massenmedien seit dem 18./19. Jahrhundert dar, mit »zunehmend weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten« (ebd.: 13-15). Diese Massenmedien führten zu einem entscheidenden Umbruch mit Blick auf die dominierende Kommunikations weise – dieser setzte allerdings schon früher ein, nämlich gegen Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts, wie noch gezeigt werden wird.8
Aufgrund solcher Schwierigkeiten bei der klaren (zeitlichen) Ab- oder Eingrenzung von Phasen – zumal diese typischerweise fließende Übergänge aufweisen – wird im vorliegenden Buch darauf verzichtet. Als theoretischer Hintergrund und Orientierungsrahmen der folgenden Darstellung dienen die umfassenden Überlegungen zu Entwicklungsschritten und Rationalisierungsprozessen gesellschaftlicher Kommunikation von Hans Wagner (vgl. 2014b: 217ff.; 2014a; 2009; 1995),9 die auf Beiträgen verschiedener Autoren aufbauen. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Vermittlungstheoretischen Ansatz (VTA) (vgl. FÜRST/SCHÖNHAGEN 2020; FÜRST/SCHÖNHAGEN/BOSSHART 2015; SCHÖNHAGEN 2004; WAGNER 1978; 1995),10 der ebenfalls als Hintergrund dient.
Wie kurz erwähnt, war demnach zunächst, über den bisher längsten Zeitraum der Menscheitsgeschichte hinweg, Versammlungskommunikation die wichtigste Form gesamtgesellschaftlicher Kommunikation. Sie beruhte auf der Anwesenheit der Kommunikationsteilnehmer*innen und der (zumindest annähernden) Gleichzeitigkeit des Austauschs (vgl. WAGNER 2009: 109-112; 2014b: 233). Dabei versammelten sich Gesellschaftsmitglieder (zufällig oder absichtlich), um sich mündlich und von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) über diverse aktuelle Fragen und Probleme auszutauschen. In diesem Zusammenhang ist auch von »Präsenzöffentlichkeit« die Rede (GERHARDS/NEIDHARDT 1990: 24). Die Versammlungskommunikation war außerdem durch eine (zumindest weitgehende, wenn man von gehörlosen Menschen absieht) allgemeine »Medienverfügbarkeit« gekennzeichnet (WAGNER 2009: 111; 2014b: 233), d. h., alle potenziellen Kommunikationsteilnehmer*innen verfügten über die zur Kommunikation benötigten Medien (Sprache, Gesten, Mimik).
In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Gesellschaften und Gemeinschaften11 notwendigerweise der Kommunikation bedürfen, sowohl um sich überhaupt zu konstituieren als auch für ihre weitere Aufrechterhaltung (vgl. BERGER/LUCKMANN 1966/1980). Dabei bringen typischerweise – schon in der frühen Versammlungskommunikation – Sprecher*innen von Gruppen Bedürfnisse, Forderungen etc. ein, worauf andere reagieren (können). Auf deren Reaktionen kann es erneut Reaktionen geben etc. Man kann auch sagen, dass Gesellschaft nur durch Kommunikation existiert, was Wagner (2014a: 245; Hervorh. d. Verf.) als das »kommunikative Prinzip« bezeichnet. Dieses findet sich bereits in der antiken Philosophie (vgl. auch BEIERWALTES 1999: 25-28). In diesem Sinne sprach Thomas Luckmann in einigen späten Arbeiten nicht mehr nur von der »social«, sondern auch von der »communicative construction of reality« (zit. nach SCHNETTLER 2006: 128; Hervorh. d. Verf.).
Vor diesem Hintergrund erscheint Versammlungskommunikation als die »›Urform sozialer Kommunikation‹« (SCHÖNHAGEN 2008a: 2). Sie stieß jedoch mit dem Anwachsen und der zunehmenden Ausdifferenzierung von Gesellschaften an Grenzen: Eine Versammlung aller bzw. aller mitspracheberechtigten Mitglieder an einem Ort zur gleichen Zeit war nicht mehr realisierbar. Dieses Problem der »Dislokation der Kommunikationspartner« (WAGNER 1995: 19) konnte nur gelöst werden, indem die Versammlungskommunikation durch einen anderen Kommunikationsmodus abgelöst wurde: die »Kommunikation über Distanz« (WAGNER 1995: 21; Hervorh. d. Verf.), d. h. zwischen nicht-anwesenden Kommunikationspartnern (auch als Fernkommmunikation bezeichnet). Historisch kann zunächst eine Zunahme von derartigen Kommunikationsformen, ergänzend zur Versammlungskommunikation, beobachtet werden. Dabei bedurfte die Kommunikation für ihr Zustandekommen der technischen und/oder menschlichen Vermittlung. Insbesondere dieses Einschalten von Vermittlern veränderte den gesellschaftlichen Nachrichtenaustausch grundlegend. Wolfgang Riepl spricht in seiner erstmals 1913 veröffentlichten Studie über das Nachrichtenwesen des Altertums (2014: 93) davon, dass an die Stelle der Versammlung zunehmend das »Prinzip der Auseinandertragung oder Versendung« von Mitteilungen trete. Das heißt, dass zum einen der kommunikative Austausch nicht mehr annähernd gleichzeitig zwischen Anwesenden stattfand, wie in der Versammlungskommunikation, sondern immer häufiger zeitversetzt (sukzessiv) zwischen räumlich voneinander entfernten Personen, also Abwesenden. Zum anderen war bei der Versammlungskommunikation jede*r, die oder der etwas mitteilen wollte, auch selbst Übermittler*in dieser Nachricht. Wagner (1978: 96) bezeichnet dies als »Eigen«- oder »Selbst-Vermittlung«. Fernkommunikation dagegen beruht auf der Trennung zwischen dem Vorgang der Mitteilung selbst und ihrer Übermittlung an die Angesprochenen. Erst diese Trennung ermöglichte es dann auch, eine Vielzahl von Mitteilungen unterschiedlicher Urheber*innen mittels einer Person bzw. in einem Medium zusammenfassend weiterzugeben. Dies war der Kern der Lösung, um unter den Bedingungen komplexer und räumlich ausgedehnter Gesellschaften eine für alle überschaubare und zugängliche Kommunikation zu realisieren. Allerdings ist es in diesem Fall keineswegs mehr so selbstverständlich wie bei den natürlichen Medien, dass jeder potenzielle Kommunikationspartner über solche Medien verfügen kann (vgl. WAGNER 2009: 106f.). Im Gegenteil fand eine zunehmende Konzentration der Vermittlung in Form professioneller Vermittler bzw. von Medienorganisationen statt (vgl. WAGNER 1995: 15ff.). Diese entwickelten zudem eine wachsende Autonomie von den an der Kommunikation Beteiligten (Individuen und insbesondere Gruppen). Mit diesen Rationalisierungs- und Konzentrationsprozessen erhöhte sich schrittweise die Effizienz der Kommunikationsvermittlung (siehe im Detail Kap. 3), aber auch die Abhängigkeit der potenziellen Kommunikationspartner von den professionellen Vermittlern. Letzteres führte