Der Rhein: Das malerische und romantische Rheinland. Karl Simrock
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Der oberste Rheingau
Über dem Städtchen Werdenberg liegt das gleichnamige Schloß, der Stammsitz des Grafengeschlechts, dessen wir in der Geschichte des Grauen Bundes gedacht haben. Von Werdenberg gelangt man in dreieinhalb Stunden nach Wildhaus, dem höchstgelegenen toggenburgischen Ort, am Fuße des Säntis, bei den Quellen der Thur. Hier wurde 1484 Ulrich Zwingli geboren.
Der auf dem linken Rheinufer von Hohensax in der Grafschaft Werdenberg bis zum Bodensee Vorarlberg gegenüber gelegene Landstrich wird im engsten Sinn das Rheintal (Vallis rheni) genannt. Als ein schönes und fruchtbares Weinland führt es auch den Namen Rheingau, obwohl es mit dem unter Mainz nicht zu verwechseln ist, ein Irrtum, in den doch wirklich ein Schriftsteller verfallen sein soll.
Der Hauptort dieses obersten Rheingaus ist Rheineck, welcher Name uns gleichfalls noch öfter begegnen wird. Von ihm wird es auch das Rheineck genannt. Dieses Tal, das nur wenige Stunden Breite hat und allmählich gegen den See absteigt, genießt ein mildes Klima und blüht den warmen Küssen der Sonne mit üppigem Pflanzenwuchs entgegen. Dies sind nicht mehr die undankbaren Felsen des hohen Rätien, wo es nur Wiesen und Weiden gab, hier reifen in Fülle Weizen und Korn, Haine von Obstbäumen umgeben jede Ortschaft, ein süßer Most springt von der Kelter, und hoch über den Weingärten findet die Herde noch reichliche Weide. Ein Kenner des Schönen, des landschaftlichen insbesondere, der selbst bis jetzt eine der reizendsten Gegenden bewohnte, Herr Joseph von Laßberg auf Eppishusen, urteilt von diesem Rheintal, es sei das schönste Tal Deutschlands. Wirklich liegt es den Wundern der Alpenwelt noch nahe genug, um entzückte Blicke hinein zu gestatten, und doch in behaglicher Ferne von ihren Schrecken. Die lauen Lüfte des Rheintals, die im Lenz manche Nachtigall wecken mögen, säumten nicht, auch menschliche Kehlen zum Gesang zu stimmen. Hier nicht minder als in den benachbarten Tälern der Schweiz blühten schon im dreizehnten Jahrhundert das Minnelied und die erzählende Poesie. Zwei Glieder des Hauses Hohensax, bei dessen Stammburg das Rheintal beginnt, Herr Heinrich von Sax und Bruder Eberhard von Sax, ein Mönch des Ordens der Prediger, sowie Konrad von Altstetten, der freundlichen Stadt in der Mitte des Tals, finden wir unter den besseren Liederdichtern jener Zeit. Ferner soll der Hardegger aus einer der Burgen über Marbach stammen. Die Heimat Friedrichs von Husen, nach der er, vielleicht im Gelobten Land, so manches Lied voller Sehnsucht sang, sucht man im Rheintal in der Nähe der Felsen, wo König Dagobert als Grenzzeichen seines Reiches einen Halbmond einhauen ließ.
Hier öffnet sich bei der Au ein liebliches Tal, in welchem oberhalb Bernang die alte Burg Husen lag. Die Lieder dieser ritterlichen Sänger sind uns in der sogenannten »Manessischen Sammlung« erhalten, welche selbst lange Zeit im Besitz des freiherrlichen Hauses von Hohensax gewesen ist. Wäre jener Hans Philipp von Hohensax, dessen unverweste Leiche noch heute in der Kirche zu Sennwald den Reisenden gezeigt wird, nicht 1559 von seinem Neffen Ulrich Georg meuchlerisch ermordet worden, so würde wohl jene kostbare Handschrift Deutschland nicht entfremdet und nach Paris verschleppt worden sein. Die verwitwete Freiherrin konnte dem dringenden Verlangen des Kurfürsten von der Pfalz, den Kodex für seine Bibliothek zu gewinnen, in Berücksichtigung der Verhältnisse ihres Mannes zum pfälzischen Hofe, nicht widerstehen, und so blieben die Bemühungen des gelehrten Schobinger, der den Liederschatz seiner Heimat zu erhalten wünschte, erfolglos; der Versuch aber, wenigstens eine Abschrift zurückzubehalten, kostete den trefflichen Mann das Leben. In Heidelberg kam die Handschrift zwar unter den eigenen Schlüssel des Kurfürsten; aber eben darum lag sie wie im Gefängnis, aus dem sie bei der Einnahme Heidelbergs im Jahr 1622 nur erlöst wurde, um nach Paris zu wandern. Bei der zweimaligen Einnahme dieser Stadt hat man sie, wie so vieles andere, zurückzufordern vergessen.
Jener ermordete Freiherr, zeit seines Lebens ein eifriger Protestant, hatte für die Freiheit der Niederlande gefochten und war mit knapper Not der Bluthochzeit entronnen. Dennoch soll ihn sein unverwester Leichnam bei den abergläubischen Einwohnern der rechten Rheinseite in den Geruch der Heiligkeit gebracht haben. Sie wußten sich erst einzelne Finger zu verschaffen und entführten endlich den ganzen Leichnam als eine Reliquie, welche die ketzerischen Sennwalder nicht genug zu schätzen wüßten. Diese aber, um das Gegenteil zu beweisen, erhoben Klage, und die natürliche Mumie mußte ihnen ausgeliefert werden.
Diesem freiherrlichen Haus Hohensax gehörte auch jener Ritter an, von welchem Gustav Schwab in der Ballade »Die seltene Kur« erzählt, daß er in der Schlacht durch den Hieb seines Gegners eines Gliedes beraubt wurde, das er gern entbehrte – seines Kropfs.
Dem Rheintal gegenüber, im heutigen Vorarlberg, blühte um dieselbe Zeit wie jene Liedersänger Rudolf von Hohenems, Dienstmann zu Montfort, keiner der besten, aber auch der schlechteste nicht unter den erzählenden Dichtern jener Periode. Es erging ihm, wie es heutzutage auch wohl einem Dichter ergeht, der seinen Reichtum lieber in Hellern und Pfennigen als in blanken Goldstücken besitzen mag. Oder wollte er zuviel Gewinn von seiner Meisterschaft ziehen? Das ist gewiß, die Leichtigkeit, mit der er dichtete, verführte ihn, ohne Ziel und Ende zu dichten. Wir besitzen von ihm außer einer gereimten »Weltchronik« in zahllosen Versen noch einen »Alexander«, eine »Geschichte Wilhelms von Orleans« und die weitläufige Legende von »Barlaam und Josaphat«. Überdies hat er noch vieles andere von beträchtlichem Umfang, z. B. einen »Trojanischen Krieg«, vermutlich auch einen »Schwanenritter« gedichtet. Bei solcher Fruchtbarkeit wird es niemand befremden, daß er die Gediegenheit jenes Dichters nicht erreichte, dem wir den »Parzival« und das Bruchstück vom »Titurel« verdanken; aber wieweit er hinter ihr blieb, so ist er doch leichter und für denjenigen, der nicht viel mehr als geistreiche Unterhaltung sucht, angenehmer zu lesen als »Wolfram«. Wackernagel nennt ihn einen der vorzüglichsten erzählenden Dichter, während ihn Gervinus vielleicht zu tief herabsetzt.
Wie Hohensax durch die sogenannte »Manessische Sammlung«, die auf diesen Namen keinen Anspruch hat und besser die »Hohensaxische« hieße, so ist Hohenems durch zwei Handschriften des »Nibelungenliedes« berühmt, die hohenems-münchische und die hohenems-laßbergische, von welchen letztere, obgleich sie die jüngste Überarbeitung des Textes enthält, doch als die älteste Handschrift gilt, während die erstere offenbar den ältesten Text in vielleicht jüngerer Handschrift überliefert. Nimmt man die dritte, einst dem großen Schweizer Geschichtsschreiber Ägidius Tschudi gehörige Handschrift dazu, welche in dem benachbarten St. Gallen gezeigt wird, so konnten dies und der aus dem Rheintal nach dem Arlberg streichende Nibelgau in der rätischen Mark wohl verführen, hier die Heimat des Liedes zu suchen. Dennoch hätte man der Versuchung widerstehen sollen.