Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens. Группа авторов

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Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens - Группа авторов Mainzer Beiträge zum Kirchen- und Religionsrecht

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das Größere der Gerechtigkeit ist, wird der menschlichen Praxis vor Augen gestellt. Wer sich im Hier und Jetzt auf die Gerechtigkeit versteife, könne Ungerechtigkeiten erzeugen. Das Rechte breche sich an einer rigiden Gerechtigkeitsforderung. Zugleich wird angedeutet, dass es ohne Gerechtigkeit nicht geht. Das skizzierte Gerechtigkeitsverständnis in seinem vergeltungstheoretischen Ton ist wiederum diskussionswürdig.

      So wirft die zitierte Passage mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Antworten, soweit sie sich überhaupt finden lassen, müssen vorsichtig, situativ und sich ihrer begrenzten Tragweite bewusst sein, aber ebenso praktisch, konkret und anwendungsorientiert. Einen Meister für solche Problemfälle, für praktische Antworten in unsicherem Terrain, feierten die Kirchen mit Martin Luther im Reformationsjubiläum 2017. Luthers Überlegungen klingen selten vorsichtig. Doch wissen sie um ihre begrenzte Belastbarkeit, bei gleichzeitiger Notwendigkeit, praktische Lösungen anzubieten. Luthers Umgang mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ist theologisch sensibel und politisch robust, umsichtig und pragmatisch, von Vorsicht getragen und mit Nachdruck vorgetragen. Widersprüchlich also, wie das Thema selbst. Gerade seine disparaten Annäherungen an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verweisen auf die Komplexität der Fragestellung, die sich einfachen Antworten entzieht. Der Reformator ist überzeugt: Das strenge Recht macht gutes Miteinander unmöglich, zu großes Entgegenkommen hingegen ebenso.

      Einen Versuch der Balancierung bietet die Billigkeit. Sie taucht in seinen Schriften durchlaufend und variantenreich auf. Die Anzahl der Textpassagen, in denen der Reformator über eine angemessene Rechtsanwendung nachdenkt, sind Legion. Auch die Begriffe, die Luther hierfür nutzt, sind vielgestaltig. Er spricht von „epijkia, equitas, clementia, comoditas“ oder „moderatio“6, genauso von „Billicheit“7 oder „gelindikeyt“8. Diesen Nuancierungen kann ich vorliegend nicht gerecht werden; wer hierzu mehr lesen will, kann dies an anderer Stelle tun.9

      In diesem Beitrag geht es mir mit Blick auf die Kanonistik um die Frage, was Luther mit seinen Ausführungen zur Billigkeit zu den Debatten um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit beitragen kann, die wir heute noch führen. Sein Oeuvre findet diesbezüglich (und auch in anderen Fragen) in der Kanonistik bisher noch wenig Beachtung. Das ist zum einen nachvollziehbar, weist seine Rechtskritik Luther doch nicht als natürlichen Verbündeten der Kanonistik aus. Ein vertiefter Blick in seine Texte zeigt jedoch an, dass man ihn inhaltlich nicht ignorieren sollte. Denn anders, als man es angesichts seiner Fundamentalkritik am kanonischen Recht erwarten würde, brach Luther nicht mit den kirchenrechtlichen Denktraditionen seiner Zeit, wie der Theologe Jason Gehrke bemerkt: „he drew constructively upon the civil and canon law traditions of the Middle Ages, which he had famously cast into the flames at the Elster Gate in 1520.“10 Neben Material, das ihm die hochmittelalterliche Legistik präsentierte, bediente sich Luther mancher Ideen aus der Kanonistik. Dies ist in besonderer Weise in seinen Ausführungen zur Billigkeit erkennbar, die nicht nur Anleihen bei Aristoteles, Jean Gerson oder Thomas von Aquin machen, sondern ebenso Ideen verarbeiten, die im Decretum Gratiani oder beim Kanonisten Heinrich von Susa entfaltet wurden.11

      1. Einzelfallkorrektur

      Dass das Recht im menschlichen Miteinander nicht das letzte Wort haben sollte, wird in den Passagen deutlich, in denen Luther das strenge Recht als Quelle von Ungerechtigkeit avisiert. Dass rechtliche Strenge unrecht sein könne, ist für ihn Alltagswissen:

      „Denn so sagen auch die heiden, das ist, die tegliche erfarunge: Summum Jus, Strenge recht, ist das groessest unrecht, gleich wie widderumb mag gesagt werden von der gnade: Eitel gnade ist die groessest ungnade.“12

      Durch das summum ius stützt Luther dieses Alltagswissen historisch ab. Die von Cicero als leicht abgenutzt qualifizierte Redewendung „Summum ius summa iniuria“13 zitiert er als allen Menschen eingängige Erkenntnis über die Grenzen des Rechts, das Miteinander gerecht zu gestalten. Im Spiegel des summum ius erscheint die Epikie als Sensus dafür, dass man Recht bisweilen Recht sein lassen müsse, um ein wichtigeres Ziel zu erreichen.

      An anderer Stelle bezieht Luther das summum ius auf die Aristotelische Epikielehre. Wie schon Aristoteles bemerkte, sei das strengste Recht das größte Unrecht:

      „Wie Aristot. Eth. 5. von der Epijkia leret […] so ists das aller grossest unrecht nach dem spruch des klugsten Romers Scipionis, Summum ius summa iniuria Enge recht weit unrecht“14.

      Durch diesen Verweis zeigt Luther an, dass mit Billigkeit mehr gemeint ist als gutmütige Nachgiebigkeit gegenüber den eigenen Schuldnern. Denn für Aristoteles ist Billigkeit zwar eine Tugend, nicht aber die Gutmütigkeit der Berechtigten, auf ihr Recht zu verzichten, sondern die Tugend der Rechtsverpflichteten, die Grenzen des Rechts zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die Billigkeit ist die naturrechtliche Korrektur des Gesetzes. Korrekturbedürftig sei das Gesetzesrecht aus dem Grund, erläutert Aristoteles,

      „daß jedes Gesetz allgemein ist, in einigen Dingen aber in allgemeiner Weise nicht korrekt gesprochen werden kann. Wo man allgemein reden muß, dies aber nicht angemessen tun kann, da berücksichtigt das Gesetz die Mehrzahl der Fälle, ohne über diesen Mangel im unklaren zu sein“15.

      Diese Unschärfe sei keine Folge schlechter Gesetzgebung, sondern liege in der Natur der Gesetze, die als allgemeine Anordnungen eine unvermeidbare Insensibilität gegenüber dem Variantenreichtum des menschlichen Lebens aufwiesen. Stelle sich eine Fallkonstellation ein, die im Gesetz nicht angemessen bedacht wurde, sei dies ein Anlass für Epikie. Die bzw. der vom Gesetz Betroffene müsse das Gesetz „verbessern, wie es ja auch der Gesetzgeber selbst getan hätte, wenn er dabeigewesen wäre; und wenn er diesen Fall gewußt hätte, hätte er ihn ins Gesetz aufgenommen“16.

      In diesem Ansatz sind es die vom Gesetz Verpflichteten, die unter Berufung auf die Epikie in ihrem Fall zu einer das Gesetz korrigierenden Lösung finden. Dass dies nicht willkürlich geschehen kann, zeigt Aristoteles an, indem er die Betroffenen sich in einem persönlichen Prüfverfahren auf den Gesetzgeber beziehen lässt, um dessen hypothetische Bewertung des Sachverhalts zu erheben. Es seien nur die Fälle mittels Epikie zu behandeln, in denen davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber eine Verbesserung der Norm vorgenommen hätte, wenn er mit dem Einzelfall konfrontiert worden wäre. Hierin liegt ein intersubjektives Moment der Epikie, das der Willkür der einzelnen in der Bewertung der eigenen Umstände Grenzen setzt.

      Die Aristotelische Konzeption bemüht Luther nicht allein dadurch, dass er formal auf die Nikomachische Ethik verweist. Vielmehr nimmt er mehrere Gedanken des antiken Vorbilds in seinen eigenen Entwurf auf. Jedes Recht leide an der menschlichen Begrenztheit, alle Fallkonstellationen zu berücksichtigen: „Denn weil das recht mus und sol einfeltiglich mit dürren, kurzen worten gestellet werden, kan es gar nicht alle zufelle und hindernis mit einfassen.“17 Eine Präzision, die dem menschlichen Leben umfassend Rechnung trage, sei undenkbar: „Den so spitzig und gewis wird kein recht nymer mehr erfunden werden, das alle zufelle und umbstende fassen muge.“18 Da das Recht daran scheitere, Einzelfalladäquanz sicherzustellen, erzeuge strikte Rechtsanwendung Unrecht. Hier sei Epikie gefragt.

      Epikie bedeute, den Ausnahmefall zu berücksichtigen. Das Leben sei vielfältiger als das Recht. Dem trage ein billiges Verfahren Rechnung:

      „Also müssen und sollen alle rechte, wilche auff die that gestellet sein, der Billigkeit als der meysterynn unterworffen sein umd der manchfeltigen, unzelichen, ungewissen zufelle willen, die sich begeben können und niemand sie kan zuvor abmalen odder fassen.“19

      Die Billigkeit als Meisterin des Rechts ist indes nicht darauf aus, die gesetzliche Ratio zu hintergehen. Vielmehr versteht Luther sie als vernunftgemäßen Umgang mit dem Gesetz, das es so anzuwenden gelte, dass der eigentlichen Regelungsabsicht entsprochen werde. Martin Heckel erläutert:

      „Die ‚Billigkeit‘

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