Seelsorge: die Kunst der Künste. Группа авторов
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Kunst und Seelsorge
Es gibt ein Kunstwerk, das diese Geste eingefangen hat. Es stammt von Alberto Giacometti. Vor dem Betrachter steht eine nackte Frau von annähernd menschlicher Größe und Erscheinungsform. Was man für Augen halten könnte, sind zwei Räder, das eine intakt, das andere zerbrochen. Sie hat die Arme vor der Brust erhoben, sie scheinen sehr behutsam etwas Unsichtbares zu halten. Man hat den Eindruck, die Figur sei gerade dem Abgrund entstiegen. Giacometti erzählt, diese Figur sei ihm plötzlich fertig eingefallen. Er stellte sie am Grab seines Vaters auf. Interessant sind ihre unterschiedlichen Bezeichnungen: „L’object invisible“ (Der unsichtbare Gegenstand) oder „Mains tenant le vide“ (Hände, die die Leere halten). Beim Hören ergibt der Ausdruck eine lautgleiche Äquivalenz zu: „Maintenant le vide – Jetzt die Leere.“ Die Bedeutung von „le vide“ ist vielschichtig: Leere, Zwischenraum, Tiefe, Abgrund. Was aber halten die Hände?
In den Zeiten, in denen Giacometti in Paris in seinem Atelier arbeitete, besuchte er häufig den Louvre. Eines seiner Lieblingsbilder war ein Marienbild aus dem Freskenzyklus von Cimabue. Vor allem beeindruckte ihn die „Wahrheit der Hände“ der Madonna. „Man kann die Hände nicht echter und dichter gestalten“, so Giacometti. Die Hände seiner Skulptur sind den Händen auf dem Marienbild sehr ähnlich – nur halten sie kein Kind, keinen Jesus, sondern die Leere. Der Raum zwischen den Händen ist eine Leer-Stelle. Er wird aufgespannt, aber nicht gefüllt. „Kunst interessiert mich sehr – aber die Wahrheit interessiert mich unendlich viel mehr … und die Wahrheit ist einzig das Leben“, so hat es Giacometti formuliert (Steinmeier 2003, 198–203).
Man könnte diese Figur auch „Seel-Sorge“ nennen. Aus dem Abgrund aufsteigend, schauend und verletzt, spannt sie die Arme auf, um zu bergen und doch freizugeben. Eine Reihe und eine Zeitschrift, die im Titel den Begriff „Seelsorge“ führen, dürfen natürlich zwischen den beiden Buchdeckeln nicht die Leere aufspannen, aber etwas von diesem Bewusstsein soll in jedem Exemplar wach gehalten werden: im Aktivismus allein liegt nicht die Lösung.
Theologie und Praxis von Seelsorge wollen etwas von diesem Paradox der Seelsorge inszenieren: Handeln ist kein Erdrücken, Freiraum geben aber auch keine interesselose Distanz. Seelsorge ist ein Paradox: das Junktim zwischen Naivität des Herzens und Professionalität der Methode (Garhammer 1989).
Jörg Seip
Pastoral und Seelsorge
Eine diskurskritische Relektüre
„‚Wenn ich ein Wort verwende‘, behauptete Hampti Dampti hochmütig, ‚dann hat es genau die Bedeutung, die ich haben will – nicht mehr und nicht weniger.‘
‚Die Frage ist‘, wandte Alice ein, ‚ob man das einfach machen kann, einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben.‘
‚Die Frage ist‘, korrigierte Hampti Dampti, ‚wer das Sagen hat – das ist alles.‘“ (Caroll 1998, 719)
Eine Frage der Verortung
„Pastoral“ und „Seelsorge“ sind Begriffe, die das Christentum seit seinen Anfängen begleiten und von diesem stets neu adaptiert und transformiert werden. Beide gehen und gingen dabei Mesalliancen mit der jeweiligen Zeit und ihren Bedingtheiten ein. Das zeigen schon die Fundorte, die Topik der beiden Begriffe: während das Wort „Pastoral“ über die altorientalischen Bilder vom Hirten (pastor, lat.) auf die jüdisch-christliche Antike zurückgeführt wird, entstammt das mit der Selbstsorge (epimeleia heautou, gr.) verbundene Wort „Seelsorge“ der griechisch-römischen Antike. Die semantische Offenheit beider Begriffe war in der Folgezeit nie ein Makel, denn sie ermöglichte situative und diskursive Aneignungen und Umstellungen, die einerseits unterschiedliche theologische Konzeptbildungen und Differenzierungen zur Folge hatten und andererseits dennoch schlichtweg sämtliche Handlungsweisen und -träger christlicher Gemeinschaften bezeichnen konnten. In dieser freigegebenen, doppelten Aneignung und Benutzung liegt geradezu der Reiz und möglicherweise ein unterscheidendes Merkmal zum Begriffsgebrauch anderer theologischer Disziplinen, etwa der systematischen oder biblischen. Die Praktische Theologie operiert mit von der Alltagssprache besiedelten Begriffen. Ihre Begriffe werden im Alltagsgebrauch ständig überschrieben. Dass ein solcher Gebrauch die institutionellen bzw. professionellen Definierungen unterläuft, regt die Praktische Theologie nebenbei an, dem kritisch nachzugehen, was man Definitionsmacht nennt. Die Doppelheit von professionalisiertem und alltagspraktischem Bezeichnen schaut auf die Mikropraktiken der Macht und führt zu anderen Praktiken im Umgang mit Begriffen und Fundorten: die Praktische Theologie kann viel weniger als andere theologische Disziplinen eine Norm oder Definition voraussetzen, sondern sie findet bzw. erfindet solche erst in den Konstellationen der Praktiken. Das ist aus Sicht der Diskursforschung gesagt (Angermüller u. a. 2014): Praktische Theologie nimmt ihren Anfang bei den Praktiken und darunter fallen unter anderem nun eben auch Normen, Definitionen oder Prinzipien, aber nicht so sehr in Hinsicht auf das, was sie sagen, sondern auf das, was sie tun und was deren Gebrauch zeigt (Seip 2009, Gärtner u. a. 2014). Insofern ist die doppelte Aneignung der Begriffe „Pastoral“ und „Seelsorge“ keineswegs ein zu begradigender Lapsus oder gar eine zu behebende Unschärfe, der man quasidekretiv mit Definitionen beizukommen hätte, sondern sie ist der originäre Ausgangspunkt pastoraltheologischen Denkens. Mit anderen Worten: es geht um das Zwischen oder Neben (pará, gr.), d. h. um jenen dritten Raum in actu, der beim Bezeichnen und Überschreiben entsteht (Seip 2017 a). Denn der Definitionsmacht schiebt sich ständig „etwas“ dazwischen. Insofern ist das Zwischen der Fundort der Praktischen Theologie.
Dieser Essay geht darum auch weniger rekonstruktiv den historischen oder gegenwärtigen Konfigurationen der beiden Begriffe nach, sondern sucht – im Sinne einer anregenden Lektüreeröffnung – eine Art diskursive Verortung (in) der ebengenannten, stets mitlaufenden Doppelheit pastoraltheologischer Praktiken. Unter „Diskurs“ verstehe ich dabei verkürzt gesagt die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsbedingtheiten: m. a. W. es geht nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um die Aussage, sondern um die Art und Weise des Aussagens, nicht um die Bedeutung des Was, sondern um die Modalität bzw. Erscheinungsweise des Was.
So wird das heuristische Potential der Praktiken aufgegriffen, die unter Bezeichnungen wie „Pastoral“ und „Seelsorge“ erscheinen. In diesem Zuge könnten auch allegorisierende Verwendungen offengelegt werden, die nicht selten eine Verschleierung (kirchen)politischer Strategien sind. Solche treten beispielsweise offen zutage im pejorativen Gebrauch, der „Pastoral“ und „Seelsorge“ lediglich als nette Anwendungen benutzt oder in die Funktion von Steigbügelhaltern drängt für die hehren, andernorts ausgedachten Prinzipien, die durch sie bloß noch zu akkomodieren oder zu illustrieren wären (Garhammer 2005). Das Problem hierbei ist die Ortsfrage: „Pastoral“ und „Seelsorge“ sind eben nicht als Zielorte, sondern als Fundorte der Theologie zu denken (Haslinger 2015, 386–387). Sie umschreiben jenen diskursiven Raum