Seelsorge: die Kunst der Künste. Группа авторов

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Seelsorge: die Kunst der Künste - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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Praktiken in Amoris Laetitia 2016), fußend auf der grundlegenden, verschiebenden Relationierung von GS 4.1 als einer „Relecture des Evangeliums aus der Perspektive der gegenwärtigen Kultur“ (Franziskus 2015). Eine solche Raumeröffnung für Melangen und Mischungen wirkt der selbstverschuldeten Exkulturation des Evangeliums entgegen.

      Pastoral ist somit – im Sinne Certeaus – kein Ortsbegriff, sondern umschreibt einen Raum. Während der Ort essentialistische Zuweisungen annehmen kann, unterläuft der Raum dies, denn ihn gibt es nur mit der zeitlichen Signatur des Präsentischen und das heißt: in actu seines Entstehens und Vergehens, kurz: Ereignens (Seip 2017b). Das wiederum führt zum Verständnis von Pastoral als Haltung zurück: Pastoral heißt Haltung. Haltung ist kein Besitz, denn das wäre keine Haltung, weil Haltung ihre Kriterien am Anderen ausbildet. Weil sie sich am Anderen ausrichtet bzw. weil sie sich dem Anderen aussetzt, kann sie nur in den – aus essentialistischer Sicht zu behebenden, aus relationierender Sicht konstitutiven – Unreinheiten der Zeit performiert werden und bleibt darum aus konstitutiven Gründen fragil und angreifbar. Als theologisches Kriterium der Performance können sich die Begriffe der Anerkennung und Verletzbarkeit als hilfreich erweisen und durchsetzen.

      Als kleines erstes Fazit gesagt: Der Begriff „Pastoral“ kann als Raumeröffnung fungieren, indem er vordiskursive Setzungen sichtbar macht. In seiner relationalen Bestimmung liegen die beiden Pole Kirche und Welt weder den normativen noch den praktischen Bestimmungen voraus, sondern werden in diesem Beziehungsnetz bzw. Gefüge erst gefunden, das heißt sie werden permanent re- und dekontextualisiert. „Beliebig“ ist dies nur aus der Perspektive jener, die den Ort kartographiert haben und diese Karte nun für jeglichen Raum als gültige ausgeben. Die pastorale Aufgabe (etwa des kirchlichen Lehramts) bestände demnach darin, den Prozeß dieser Verhältnisbestimmung (und damit der eigenen Definition) in Gang zu halten. In anderen Sprachspielen heißt genau dies Tradition. Tradition gibt es nur mit „Zeitkern“ (Benjamin 1983, 578), d. h. in den diskursiven Bedingtheiten des Heute („huius temporis“, GS 1). Sie schreitet voran im Sinne eines Wachsens und läßt sich nicht abschließen. Dieses Wachsen oder Werden näher zu bestimmen, unterliegt wiederum den diskursiven Bedingtheiten des jeweiligen Heute: während DV 8 („proficit“) entsprechend seiner Zeit von einem linearen Fortschritt ausgeht, geht man in heutiger Zeit weniger von einer solchen Linie aus und denkt das Wachsen nichtlinear, etwa im Sinne eines Konzepts der Natalität (Arendt 2005) oder im Sinne des Ereignisbegriffs (Derrida 2003; Zizek 2014).

      Die Epistemik eines solchen Pastoralbegriffs stellt darum neben dem, was gesagt wird (hermeneutische Verfahren), also immer auch die Erscheinungsweise des Gesagten und des Sagens (diskurskritische und dekonstruktive Verfahren). Auf materialer Ebene geht es um eine Erscheinungsweise oder Modalität, die ihr theologisches Kriterium aus der Anerkennung und Verletzbarkeit bezieht.

       Seelsorge als Lektüre und als Exegese der eigenen Seele

      Auch dem Wort „Seelsorge“ geht es um Anerkennung: um Anerkennung des Anderen (in der Seelsorgebeziehung) und um Anerkennung des Eigenen (in der Beziehung zu sich selbst). „Seelsorge“ wiederholt das soeben skizzierte Pastoralverständnis, da sich hier am Einzelnen jene Relationierung, die der Pastoralbegriff diskursiv zu umschreiben vermag, praktisch zu bewähren hat. Die damit einhergehende Professionalisierung der Seelsorge, die sowohl auf der Rezeption psychologischer Kenntnisse fußt als auch auf dem Proprium der Seelsorge gegenüber therapeutischen Verfahren beharrt (denn Seelsorge findet im Extremfall in Situationen statt, in denen es keine Lösung und es „nichts zu ändern gibt“ (Vogd 2014)), geht einher mit alltagssprachlichen, überaus positiv konnotierten Verwendungen. „Seelsorge“ ist wie „Pastoral“ neben professionalisierten Operationalisierungen zugleich ein alltagssprachlich überschriebener Begriff, der wiederum verbunden ist mit dem semantischen Feld von „Zuhören“, „Helfen“, „Begegnen“, „Aufrichten“, „Aushalten“.

      Statt im folgenden verschiedenen Seelsorgekonzepten oder den Kartierungen von Pastoral (als Allgemeinbegriff) und Seelsorge (als Einzelfall oder Eigenname) nachzugehen (Nauer 2001), verknüpfe ich den Seelsorgebegriff mit dem Begriff „Lektüre“. Dabei greife ich zurück in jene Zeit, die die Bedingungen von Seelsorge, wie sie uns noch heute begegnet, grundlegend formatiert hat, das dritte bis sechste nachchristliche Jahrhundert. Ich tue dies aber nicht aus rekonstruktivem Interesse, das über den (vermeintlichen) Ursprung die Etablierung einer Autorität verfolgt, sondern aus einem heuristischen Interesse, das fragt: Welche Umformatierung hat „Seelsorge“, eine Praktik der griechisch-römischen Antike, im Christentum ermöglicht? Welcherart epistemische Möglichkeitsbedingung ergibt sich daraus für die Seelsorge?

      Christliche Seelsorge entnimmt den Seelsorgebegriff der antiken Literatur, in der biblischen fehlt er. Sie unterscheidet sich nach Guy Stroumsa von der antiken Seelsorge in folgendem: Das jüdische Ideal des Propheten und das christliche Ideal des Heiligen unterscheiden sich vom griechisch-römischen Ideal des Weisen im Stellenwert, den sie der Ethik als Bestandteil der Religion zukommen lassen. Christliche Seelsorge impliziert insofern stets (und auf andere Weise als die Antike) Ethik und Sorge um den Anderen. Das geht beispielsweise einher mit der Aufwertung, die das antike Christentum Frauen, Nichtbürgern und Sklaven entgegenbringt, und das schließt am schon skizzierten materialen Pastoralbegriff als Anerkennung der Anderen an. Bei der Entstehung des „abendländischen Subjekts“ (Zeillinger 2013) leistet der christliche Seelsorgediskurs die entscheidende Transformation: erstmals erscheint der Mensch lesbar und wird einer Lektüre unterzogen. Lektüre und Seelsorge sind untrennbar miteinander verknüpft. Das Christentum führt in seiner aneignenden Rezeption der antiken Seelsorge die „Exegese der eigenen Seele“ (Stroumsa 2011, 45; Hamaimbo 2015) ein, etwas das ab dem 18. Jahrhundert wiederum die Humanwissenschaften beerben.

      „Die Umkehr zu sich – hebräisch teshuva bedeutet zwar Umkehr zu Gott, aber zugleich Umkehr zu sich – setzt ein intensives Interesse am sündigen Ich voraus, eine Lektüre bzw. eine Hermeneutik seiner selbst. Eine solche Haltung bewirkt eine Erweiterung des Selbst, die mehrere Persönlichkeitsaspekte einschließt, die von den heidnischen Denkern als des Interesses unwürdig betrachtet wurden. […] Das Christentum […] sprengt die Grenzen der Person“, insofern diese „jetzt neben der Seele auch den Leib beinhaltet.“ (Stroumsa 2011, 46–47)

      Die damit einhergehende Fokussierung auf die Sünde ist Stroumsa zufolge jener Leiberweiterung geschuldet; die Praktiken der Buße und Askese sind als Lektüren der eigenen Seele zu lesen. Diese Ausweitung der Person bedeutet eine Neuformierung bzw. Erfindung dessen, was wir das abendländische Subjekt nennen: „Die große Trennungslinie verläuft nicht mehr zwischen Körper und Seele [wie in der griechischen Philosophie, J. S.], sondern zwischen dem sündigen und dem geretteten Ich.“ (Stroumsa 2011, 50)

      Sie bringt die vielfältigen Praktiken der Seelsorge und Pastoral hervor, die durch die Jahrhunderte weitere Transformationen vollziehen. Dabei bleibt allerdings folgendes bewahrt, als These formuliert: Die Frage nach dem Heil bleibt fortan an das Innere gekoppelt. Es gibt eine Lesbarkeit des Inneren, die von den christlichen Seelsorgepraktiken über die Psychologie des 19. Jahrhunderts zur Salutogenese- und Resilienzforschung, aber auch zum heutigen Diskurs der Selbstevaluierung führen: letztere sind ohne diese Umstellung bzw. Erfindung nicht möglich. Das christliche Sprachspiel „sündiges und gerettetes Ich“ erfordert keinen Souverän über den Körper, sondern vielmehr eine In(tro)spektion: das Sprachspiel setzt sich in den Praktiken des im 18. Jh. entstehenden Nationalstaates, auf den die Pastoralmacht übergegangen ist, fort und zeigt sich gegenwärtig am Evaluierungsdispositiv, das sich mithilfe des Sprachspiels „sündiges und gerettetes Ich“ beschreiben und rekonstruieren ließe. Auch die Handlungsansätze der Praktischen Theologie (1970 ff.) fußen diskurskritisch gesehen hier und semiotische sowie diskursanalytische Untersuchungen würden deren introspektive Formatierung zutage fördern, was Redewendungen wie „Intervention“ und „Ressourcenorientierung“ exemplarisch zeigen.

      Die theologische Herausforderung in spätmodernen Zeiten hingegen ist, dass es ein Zuviel oder Zuwenig – beides läuft auf dasselbe hinaus –

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