Seelsorge: die Kunst der Künste. Группа авторов
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Zwischen wissenschaftstheoretischen Strategien und alltagspraktischen Taktiken
Professionalisierung und Alltagsgebrauch scheinen einander zu widerstreiten. Daß „Pastoral“ und „Seelsorge“ spätestens um das Zweite Vatikanische Konzil herum eine wissenschaftstheoretische Professionalisierung erfuhren, wiewohl es im Christentum schon früh erste Professionalisierungstendenzen gab (Schöllgen 1998), ist ebensowenig fraglich, als dass diese mittlerweile abgegeben, zumindest aber mit anderen Disziplinen geteilt worden ist, allen voran mit den im 19. Jh. sich herausbildenden Humanwissenschaften (Certeau 2009). Wer daraus allerdings den Schluss zöge, dass man die strategischen, also institutionell in der Wissenschaft gewonnenen neuen Erkenntnisse und Entwürfe der Praktischen Theologie nun bloß nur noch umzusetzen bräuchte, hat nicht mit den Taktiken der Gläubigen gerechnet. Der Gebrauch schiebt sich dazwischen und so findet sich die Praktische Theologie in einem spannungsreichen Gefüge bzw. vor einer Unterscheidung. Die in der Fachgeschichte herausgearbeitete Spannung zwischen Deskriptivem und Normativem bzw. zwischen Ist und Soll realisiert sich in spätmodernen Ansätzen als Spannung zwischen Praktiken und Aussagen bzw. zwischen Alltagsgebrauch und Epistemik. Im Sinne einer Gretchenfrage formuliert: Nun sag, wie hast du es mit diesen dreien, mit wissenschaftsstrategischer Differenzierung, taktischem Gebrauch und akkomodierender Anleitung?
Die Alltagspraktiken, das hat Michel de Certeau in Bezug auf die Stadt analysiert (Certeau 1988), unterlaufen die Pläne jener, die den Alltag allzu gerne kartographieren. Aus dieser Sicht wird Praktische Theologie als Anleitungswissenschaft nicht funktionieren, denn zum einen wissen die Fußgänger schon selber, welche Wege sie einschlagen und wo sie Umwege erfinden. Und zum anderen ist das, was Praktische Theologie tut, keineswegs so etwas wie das Weiterreichen einer Karte, sondern, das haben die handlungs- und wahrnehmungswissenschaftliche Ausrichtung seit den 1970er bzw. 1990er Jahren unhintergehbar gezeigt, ein kommunikatives Handeln, das in actu einer Kommunikation jene Subjekte und sujets, um die es geht, erst ausbildet. Diese Lesart bringt die Positionen von Jürgen Habermas und Michel Foucault zusammen, insofern sie mit Foucault vom normativen Subjektbegriff bei Habermas entlastet (Subjekte in actu ihres Entstehens und nicht vordiskursiv gesetzt) und zum anderen mit Habermas an einem normativen Kern festhält, nämlich der Kommunikation als einer Beziehung bzw. Relation.
Akkomodationen und Anleitungen haben demgegenüber kein Sensorium für Subjekte, für Menschen und Texte: Anleitungen behandeln diese als Objekte. Der Anleitung wohnt auf unterschiedliche Weise ein panoptischer Standort inne: statt um lokale Räume mit ihren unsichtbaren Wegen und Finten geht es ihr um den Hochsitz. Kurz: die Anleitung weiß zuviel. Sie setzt den immergleichen Ort (voraus) und verhandelt ihn nicht.
Der Gebrauch ist nach Certeau frei von solcherart Anleitungen. Er macht eine Diasporisierung oder Streuung und gibt ein „Mehr“ zu denken: er vollzieht ein Gehen, Flanieren und Wandern, das eine kartierte oder katalogisierte Aufzeichnung mit ihren klaren Linien planiert, denn:
„Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. Der Vorgang des Gehens, des Herumirrens oder des ‚Schaufensterbummels‘, anders gesagt, die Aktivität von Passanten wird in Punkte übertragen, die auf der Karte eine zusammenfassende und reversible Linie bilden. Es wird also nur noch ein Überrest wahrnehmbar, der in die Zeitlosigkeit einer Projektionsfläche versetzt wird. Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat. Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens. Die Spur ersetzt die Praxis. Sie manifestiert die (unersättliche) Eigenart des geographischen Systems, Handeln in Lesbarkeit zu übertragen, wobei sie eine Art des In-der-Welt-seins in Vergessenheit geraten läßt.“ (Certeau 1988, 188–189)
Den Gebrauch, den die Karte der Anleitung vergessen macht, zu analysieren und zu unterscheiden, was nichts anderes heißt als Kritik, ist der Praktischen Theologie aufgegeben. Der Gebrauch geschieht in actu und auf doppelte Weise: über Alltagspraktiken und deren wissenschaftlicher Reflexion. Beide Modi stehen nicht in einem Über-, Nach- oder Nebeneinander, sondern sind miteinander verschränkt in der Weise eines „unvermischt und ungetrennt“. Es geht um ein „hier und da“ (Certeau 1988, 191), um ein Hin-und-Her-Gehen bzw. -Flanieren (discurrere, lat.). Das fängt dann aber schon mit den hier bedachten Begriffen Pastoral und Seelsorge an.
Pastoral als Haltung und als Relationsbegriff
Der Gebrauch des Wortes „Pastoral“ reicht von der Umschreibung dessen, was die Kirche tut (deskriptiv) oder tun müsse (normativ) bis hin zum Synonym für die Relation von Kirche und Welt. Als problematisch kann sich dabei jene materiale Verwendung von „Pastoral“ erweisen, die den Begriff auf eine Innenbeschreibung und -normierung reduziert. Zwar wird der Außenbezug durch humanwissenschaftliche Exkurse, also durch ergänzende soziologische, psychologische u. a. Erhebungen behauptet, manchmal scheint diese Behauptung (einer Profession) jedoch eine Alibifunktion zu haben. Die Radikalität des Verfahrens Sehen-Urteilen-Handeln erscheint dann gekappt, wenn das Sehen die Bedingungen und Bedingtheiten der Urteils- und Handlungsstrategien nicht selber wirklich in Frage stellt und transformiert. Insofern wohnt diesem materialen Pastoralbegriff ein vordiskursives Moment inne, das den Prozess des Verhandelns einer besseren Praxis nicht wirklich offen gestalten läßt, sondern das diesen Prozess vorab rahmt und beschneidet. Dass es stets vordiskursiv gesetzte Elemente geben wird, ist hierbei nicht die entscheidende Frage, es wird in der „Pastoral“ immer unhintergehbare christliche Setzungen geben: Könnte eine solche und damit ein angemessener materialer Pastoralbegriff nicht ausgehen von der Anerkennung des Anderen?
Damit würde sich die Pastoraltheologie spannenderweise an ethisches Fragen zurückbinden – das tat sie wissenschaftspraktisch schon im 17./18. Jh. und damit soll nun nicht die Ausdifferenzierung zurückgenommen werden, vielmehr hat sie einen eigenen Weg zu suchen bei der materialen Bestimmung des Pastoralbegriffs. Der Begriff „Anerkennung“ scheint mir insofern zentral und anschlussfähig, als er gegenwärtige Wissensformationen nach dem postcolonial turn nicht überspringt. Das Konzept der Anerkennung findet sich in Ansätzen von Édouard Glissant, Homi K. Bhabha, Judith Butler und Seyla Benhabib ebenso wie in biblischen, jüdisch-christlichen Schriften, die man als Narrative der Differenz oder als „Schule der Liebe zum Fremden und des Antirassismus“ (Levinas 1996, 126) begreifen könnte. Mithilfe hermeneutischer Formationen ist die Perspektive der Anderen eingebracht worden in diakonisch formatierten Konzepten (Haslinger 1996, 491–503).
Die kriteriologische Frage wäre, auch bei der Rede von Anerkennung und Verletzbarkeit, welche vordiskursiv gesetzte Bedingungen wie, woraufhin und von wem eingesetzt worden sind. Das betrifft auch die Weitung und Operationalisierung des Pastoralbegriffs in der zweiten Kirchenkonstitution Gaudium et spes. Deren Fußnote erfindet den Pastoralbegriff im Sinne einer kontinuierlichen Tradierung neu. Sie verbindet ihn zum einen material mit dem, was sie – überdies ist dies ein Hauptbegriff des Konzils – „Haltung“ („habitudinem“) nennt, und sie qualifiziert ihn zum anderen als Relationsbegriff: „pastoral“ meint danach die „Haltung der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute“ („habitudinem Ecclesiae ad mundum et ad homines hodiernos“; Fußnote zu GS).
Andere Worte für Haltung oder Relation wären Beziehung (Boschki 2003), Resonanz (Rosa 2016), Differenz (Bhabha 2000) oder Balance (Wustmans 2011). Allen gemein ist das Durchbrechen und Außerkraftsetzen binärer Kodierungen und dichotomischer Praktiken. Es geht um so etwas wie Botengänge (Serres 1995). Die Konzilstexte des Zweiten Vatikanum spielen dies auf vielfältige Weise durch: schon im Titel von Gaudium et spes wird Kirche auf Welt hin relationiert und in die Zeit eingebettet statt von ihrer quasiessentialistischen Größe auszugehen, die doch nur wieder ein binäres Ranking zur Folge hätte. Damit bricht der neue Pastoralbegriff und öffnet einen Raum für Melangen und Mischungen, die derzeit in der relationalen Theologie von Papst Franziskus weiterentwickelt werden,