Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten. Группа авторов
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Wessenbergs Entwurf strafte alle Lügen, die ihm Staatshörigkeit und Auslieferung der Kirche an den Staat unterstellten. Jedoch lag ihm daran, dass zwischen den beiden Institutionen Kirche und Staat, „wovon die eine die innere sittlich religiöse Ordnung, die andere aber die äussere, polizeiliche und rechtliche Ordnung zum Zwecke hat, … freundliches Einvernehmen“ herrsche und beide „sich zur Förderung alles dessen, was die Wohlfahrt der Völker verlangt, die Hände biethen“62. Dagegen sah er den Sinn eines Konkordats nicht darin, dass sich die Kirche in ihm einseitig ihre privilegierte Stellung verbriefen lasse und dem Staat die dazu erforderlichen finanziellen Lasten aufbürde, sondern dass in ihm beide Institutionen zu einem Ausgleich ihrer gegenseitigen gerechten Ansprüche gelangen, zum Wohl der Menschen, zur Beförderung ihres „Glücks“ (um es „aufgeklärt“ zu formulieren).63
Doch die Kirchenfrage spielte auf dem Wiener Kongress eine untergeordnete Rolle. Bereits erste Anläufe zu einer Ausdehnung der Bundeskompetenz auf die kirchlichen Angelegenheiten stießen auf den entschiedenen Widerspruch vor allem der königlich-bayerischen Regierung, die mit allen Mitteln die konkordatäre Gründung einer Landeskirche unter ihrer Kuratel anstrebte.64 Schließlich wurde die Kirchenfrage auf die in Frankfurt anberaumte erste Bundesversammlung vertagt. Wessenberg suchte die Zwischenzeit für intensive Verhandlungen mit den einzelnen deutschen Höfen zu nützen. Aber als diese Versammlung mit einjähriger Verspätung Anfang November 1816 endlich stattfand, war die Kirchenfrage obsolet geworden. Sie kam dort gar nicht mehr auf die Tagesordnung. Die einzelnen Bundesstaaten hatten sich nach dem Beispiel Bayerns für Partikularverträge mit Rom entschieden, und die Römische Kurie schwenkte entsprechend diesen Wünschen auf separate Vertragsverhandlungen mit den einzelnen deutschen Staaten ein.65 In Rom trauerte man dem Untergang der allzu selbstbewussten Reichskirche keineswegs nach, vielmehr ergriff man dort diese Zäsur nunmehr als willkommene Gelegenheit mit dem erklärten Ziel, die vertragliche Neuorganisation der Kirchen in den deutschen Ländern einseitig als Akt päpstlicher Vollgewalt darzustellen und damit endlich die römischkanonistische Rechtsauffassung von der plenitudo potestatis des Papstes über die Gesamtkirche und jede Einzelkirche zumindest auf dem Papier „festzuschreiben“ und so faktisch zur Anerkennung zu bringen. Der Text des Bayerischen Konkordats von 1817 (siehe hier Art. I) und der für die übrigen Länder „kraft apostolischer Machtvollkommenheit“ erlassenen päpstlichen Zirkumskriptionsbullen belegt, dass der Römischen Kurie dies auch glückte – in ihrer papalistisch orientierten Zielsetzung zweifellos ein „Etappensieg“. Tatsächlich aber interpretierten und vollzogen die einzelnen deutschen Souveräne, gleich ob katholisch oder protestantisch, ihre mit Rom geschlossenen Verträge nach Napoleons Beispiel „organisch“ nach Maßgabe ihrer staatskirchlichen Prinzipien. Zwar statteten sie ihre nun päpstlich errichteten katholischen „Landeskirchen“ finanziell angemessen aus, unterwarfen sie aber auf Jahrzehnte hin ihrer Staats- und Polizeigewalt, mit den bekannten Folgen bis hinein in die Kulturkämpfe des endenden 19. Jahrhunderts. Ob ein Primas an der Spitze einer geeinten deutschen Kirche ausgleichender hätte wirken können, bleibt allerdings eine offene Frage.
Wessenberg indes warb auch nach dem Abschluss des Bayerischen („Privat“-)Konkordats nochmals für seine Idee, in der Hoffnung, die übrigen deutschen Mittelstaaten doch noch für eine Vereinigung ihrer Bistümer unter einem gemeinsamen Erzbischof gewinnen zu können (mögen auch Österreich, Preußen und Bayern „mit allem Grund für ihre Bistümer eigene Erzbischöfe verlangen“). 1818 trat er zu diesem Zweck erneut mit einer umfänglichen, auf zahlreiche Quellen- und Literaturbelege in den Anmerkungen gestützten Denkschrift an die Öffentlichkeit: „Betrachtungen über die Verhältnisse der Katholischen Kirche im Umfange des Deutschen Bundes“66. Dieser gemeinsame Erzbischof – so argumentierte er hier – könnte „zugleich die Stelle des deutschen Primas bekleiden“, dessen „Verhältniß … rein kirchlich“ wäre, der deshalb „in Zukunft in politischer Hinsicht keinem Staat eine Besorgniß einflößen“ müsste; denn der Primas „wäre nichts, als der Mittelpunkt der Nationalkirche“, deren Vereinigung „bloß moralisch“ sein und „auf Uebereinstimmung der Grundsätze“ beruhen würde, „welche unter die Aegide der Landesverfassungen und unter dem Schutz aller deutschen Souveräne gestellt sind“: „Im Innern der deutschen Staaten gewährt eine solche Vereinigung Beruhigung, und im Verhältniß mit dem römischen Hofe sichert sie den deutschen Bisthümern die Rechte und Freyheiten, welche die gesunden Grundsätze des Kirchenrechts verlangen, und deren Handhabung in dem Interesse jedes Staats gelegen ist“67.
Trotz sehr bedenkenswerter (bis heute aktueller) Vorschläge im Einzelnen blieb auch dieser Aufruf bei den Mittelstaaten ohne Echo, wenngleich manche dieser Vorschläge von den angesprochenen Regierungen aufgenommen wurden, in ihre Verträge mit Rom einflossen und in die Praxis umgesetzt wurden. Dennoch fiel die Idee einer primatialen Verfassung der Kirche in Deutschland nicht völliger Vergessenheit anheim. Als nämlich nach der Revolution von 1848 die fürstlichen Kabinette den Kirchen mehr Bewegungsfreiheit einräumen mussten und die sogleich allerorten aus dem Boden schießenden „Piusvereine“ sich noch im selben Jahr in Mainz zum ersten deutschen „Katholikentag“ vereinigten, ergriff der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel (1845-1864) die Initiative zur Einberufung einer Bischofskonferenz, die sich schließlich im Oktober 1848 in Würzburg versammelte, während im Frankfurter Parlament die Debatten über die Reichsverfassung und die Kirchenfrage in vollem Gange waren. Auf dieser ersten deutschen Bischofskonferenz unter Erzbischof Geissels Vorsitz brachte der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger (1799-1890) als maßgeblicher Konferenzberater in einem großangelegten Referat die Idee einer deutschen „Nationalkirche“ mit einem Primas an der Spitze und die Einberufung einer deutschen Nationalsynode in die Diskussion ein. Freilich wollte er, damals noch „ultramontan“ gesinnt, seine Idee, um Missverständnissen zumal an der nationalkirchlichen Bestrebungen zuinnerst abgeneigten Römischen Kurie vorzubeugen, gänzlich anders verstanden wissen als Febronius und Wessenberg: „Die so geordnete deutsche Kirche“ – so führte er aus – „würde, weit entfernt, die Einwirkung des Apostolischen Stuhles auf die deutschen kirchlichen Zustände zu schwächen oder zu beschränken, dieselbe vielmehr erleichtern, in eine engere, festere und regelmäßigere Verbindung mit dem allgemeinen Centrum unitatis treten, als dies bei dem gegenwärtigen Zustand der Zersplitterung und Vereinzelung geschehen kann.“ Doch die Mehrheit der Konferenzteilnehmer wagte nicht, dem Gedanken einer Nationalkirche durch Beschlussfassung näherzutreten. Döllinger musste einsehen: „Die Nationalkirche ist für diesmal durchgefallen.“ Aber die Konferenz beschloss einstimmig, in Rom um die Genehmigung