Wer bin ich?. Keith Hamaimbo
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1.2. Einordnung in die christliche Tradition
Obwohl das Enneagramm der Persönlichkeitstypen eine ‚Entwicklung’ unserer Zeit ist, liegen seine Wurzeln in einer Vergangenheit, die als ‚bruchstückhaft’ gesehen werden darf.
Ebert beschreibt seinen Aufsatz in der internationalen amerikanischen Enneagramm-Zeitschrift „Enneagram Monthly“ (März 1996) unter dem Titel „Are the Origins of the Enneagram Christian at all?“ wie seine ‚Suche’ nach einer christlichen Quelle des Enneagramms eine Antwort zum Teil in Evagrios Pontikos’ Schriften findet. Unabhängig von ihm sei auch Lynn Quirolo zur gleichen Feststellung gelangt. Ihr Aufsatz erschien in der gleichen Zeitschrift in zwei Teilen unter dem Titel ‚Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram‘.54 In Eberts deutscher Version des Artikels, der im Rundbrief55 der ÖAE (Ökumenischer Arbeitkreis Enneagramm e.V.) unter dem Titel „Hat das Enneagramm doch christliche Wurzeln?“ erschien, schreibt er:
In keiner anderen schriftlichen Quelle finden sich Einsichten, die so frappierend nah am Enneagramm sind, wie in den Schriften des Evagrios, […]. Könnte er so etwas wie der eigentliche ‚Erfinder’ des Enneagramms sein? Ich bin jedenfalls überzeugt, dass die Übereinstimmungen zwischen ihm und dem Enneagramm nicht bloß zufällig sind.56
Weiter vergleicht er die Lehre Evagrios’ mit den grundlegenden Enneagramm-Kenntnissen, besonders denen der Leidenschaften (Hauptsünden) und Tugenden und sogar denen der Zahlen und Symbole. Aufgrund dieser Nähe von Evagrios’ Lehre zum Enneagramm sind Rohr/Ebert von den christlichen Wurzeln des Enneagramm überzeug.t: „Wir sind inzwischen überzeugt, dass das Enneagramm nicht aus mittelalterlichen islamisch-sufistischen Quellen stammt, sondern im Wesentlichen auf den christlichen Wüstenmönch Evagrius Ponticus (gestorben 399) zurückgeht.“57 Rohr/Eberts Aussage könnte dazu verleiten, zu behaupten, dass die christlichen Wurzeln des Enneagramms ‚primär’ auf Evagrios festgelegt werden können. Aber in ihrer Aussage wird der Begriff ‚im Wesentlichen’ im Sinne von ‚bedeutend’ verwendet. Vorausgesetzt, dass Evagrios’ Beitrag darin besteht, die Lehre der Leidenschaften und Tugenden verschriftlicht und systematisch kategorisiert zu haben, ist Rohr/Eberts Schlußfolgerung richtig. Denn dieses Wissen stammt nicht von ihm, sondern – wie er immer wieder betont hat – von den ‚Vätern’, die vor ihm kamen.58
1.3. Mönchtum (Wüstenväter und -mütter)
Damit die Lehre des Evagrios für die heutige Zeit als relevant erachtet werden kann, ist es notwendig, seine Lehre mit den Umständen, in denen er gelebt hat, in Verbindung zu bringen. Im gleichen Sinne sieht der Benediktinermönch und Autor etlicher spiritueller Bücher, Pater Anselm Grün, das Zeugnis der Wüstenväter und -mütter als etwas Wertvolles für die heutige Zeit an. In seinem Büchlein „Der Umgang mit dem Bösen“ schildert er das Phänomen des Bösen am Beispiel des altkirchlichen Umgangs mit dem Thema. Grün sieht besonders die Lehre des Evagrios (und anderer Mönchsväter und -mütter) über die Leidenschaften und den Umgang mit ihnen als eine große Hilfe für das geistliche Leben jeder Person an. Nach ihm gelten die Erfahrungen, welche die Männer und Frauen in der Wüste gemacht haben, als beispielhafte Wegweiser für uns. Denn aus diesen Erfahrungen können wir unsere eigenen Erfahrungen neu interpretieren und daraus Kraft schöpfen, um den Kampf mit den Mächten unserer Zeit, die uns herausfordern, innerlich belasten und krank machen, aufzunehmen.59
1.4. Evagrios Pontikos
Evagrios wurde im Jahr 346 n. Chr. in der kleinen pontischen Stadt Ibora geboren, im Norden der heutigen Türkei. Er stammte aus einer religiösen Familie. Sein Vater war Presbyter. Das Amt des Vaters wird jedoch von verschiedenen Autoren unterschiedlich angegeben, zum Beispiel als Chorbischof oder Chorepiscopus, Landbischof. Gewiss ist, dass er im kirchlichen Dienst tätig war und durch Basilius60 dem Großen dazu kam.61 Über Evagrios’ Jugendjahre und Ausbildung ist wenig bekannt. „Denkbar ist, dass er im kappadokischen Caesarea studierte, das für seine Schulen bekannt war.“62 Von den bekannten Daten sind es die „großen Kappadokier“ (vor allem Basilius, der ihn zum Lektor weihte, und Gregor von Nazianz, dem er sich nach Basilius’ Tod anschloss und von dem er mit 34 Jahren zum Diakon geweiht wurde), die den größten Einfluss auf ihn hatten.63
Sein Zugang für das Verständnis der menschlichen Seele spiegelt sich in seinen psychologischen Analysen, z.B der Leidenschaften, wider.64 Auch unter Gregor von Nazianz bewies er nicht nur seine Gabe als Rhetoriker, sondern auch sein fundiertes theologisches Wissen.65 „Evagrios scheint neben ihm auf dem 2. Ökumenischen Konzil (381) sehr energisch und geschickt die nizänische Orthodoxie gegen den Arianismus verteidigt zu haben.“66 Der frühere Benediktinermönch Gabriel Bunge, der 2010 Mitglied der Orthodoxen Kirche geworden ist, geht davon aus, dass der Nachfolger von Gregor, Nektarios, von dem Wissen und der Erfahrung des Evagrios in kirchlichen Angelegenheiten profitiert haben muss,67 weil er „bei seiner Erhebung noch Laie war“68. Mit seiner Begabung wird er später einer der Ersten, der das Wissen und den geistlichen Reichtum der monastischen Tradition niederschreibt.69
Durch den Tod von Basilius und den Rücktritt von Gregor findet das Leben des jungen Evagrios eine neue Wende.70 Der endgültige Wendepunkt trat ein während seines Dienstes unter Nektarios, vermutlich wegen einer Liebesaffäre mit einer verheirateten Frau aus der aristokratischen Klasse, oder wie Bunge es darstellt: „Um einer möglichen Affäre mit der Frau eines hohen kaiserlichen Beamten der Stadt zu entgehen“.71 An anderer Stelle heißt es: „Die Frau eines hohen kaiserlichen Beamten verliebt sich in den glänzenden und gut aussehenden Redner, der sich seiner selbst ebenfalls nicht mehr sicher ist. Ein psychologisch hochinteressanter Traum, den Evagrios später einem Vertrauten erzählte, erzwingt die Lösung des Konfliktes: Flucht.“72 Dem Rat des Engels in dem Traum folgend, verließ Evagrios die Stadt und ging nach Jerusalem, wo er im Doppelkloster des Rufinus und der Melania der Älteren aufgenommen wurde.73 Die römische Adelsdame beeinflusste Evagrios nachhaltig, sodass dieser ihr in seinem späteren Leben sehr dankbar gewesen ist. Zum Beispiel erkrankte er an einem schlimmen Fieber, das anscheinend nicht heilen wollte und ihn beinahe das Leben kostete. Erst nachdem er seine Geschichte Melania erzählt hatte, konnte sie wegen ihrer ‚erfahrenen Menschenkenntnis’ vermuten, dass seine Krankheit eine Form der Strafe dafür war, dass Evagrios vor dem Engel in Konstantinopel einen Eid abgelegt, ihn aber anscheinend nicht eingehalten hatte. Daraufhin ließ sie ihn versprechen, dass er den Eid leisten solle, indem er ein klösterliches Leben beginne. Es ist überliefert, dass er nach diesem Versprechen wieder gesund geworden sei und anschließend 383 seine klösterlichen Gewänder von Rufinus erhalten habe. Schließlich entschloss er sich, nach Ägypten zu ziehen.74 „Evagrius ist also erst als reifer Mann, und nicht einmal ganz freiwillig, Mönch geworden.“75 So kommentiert Bunge die Ereignisse, die zu Evagrios Aufnahme des Mönchlebens geführt hatten.
Mit seinem „selten feinen psychologischen Empfinden und analytischen Scharfblick“76 verfasste er in der Wüste seine Schriften. Besonders hier erweist er sich als Schriftsteller, Mystiker, Asket, Kopist, geistlicher Lehrer und biblischer Exeget.77 Kevin Corrigan beschreibt ihn als: “A pioneer of monastic theology; the creator or developer of the seven deadly sins tradition; a father of cognitive psychology; an upholder of Nicene Orthodoxy”.78 Die positiven Attribute