Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft. Группа авторов

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Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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individualisiert und verwandele sich in einen Gegenstand individueller Wahlvorgänge.

      Der Einfluss der Säkularisierungsthese reicht bis heute weit über die Soziologie hinaus. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, die Säkularisierungsthese sei die dominierende Selbstverständigungskategorie des 20. Jahrhunderts gewesen, zumindest unter den Intellektuellen Europas. Die aufstrebenden Naturwissenschaften konnten sich auf sie berufen und alle Geisteswissenschaften sind von ihr imprägniert. Auch die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die evangelische wie die katholische, lassen sich nicht begreifen ohne Bezug zum Horizont der Säkularisierungsthese.

      Die Kritik der Säkularisierungsthese gewinnt heute auf verschiedenen Ebenen an Boden. Zuerst trifft es die Annahme, mit der Säkularisierung habe man wissenschaftlich einen gesellschaftlichen Prozess identifiziert, der notwendig und zielgerichtet verlaufe und zwangsläufig auf ein Ende der Religion hinauslaufe. Bis auf einige versprengte kämpferische Atheisten – heute zumeist in einem biologistischen und naturalistischen Gewand – vertritt die Säkularisierungsthese als Teleologie, als Ziel von Geschichte und Gesellschaft eigentlich niemand mehr. Ein zweites Feld der Kritik betrifft den inhärenten Eurozentrismus der Säkularisierungsthese. Die These ist im westlichen Europa entstanden und zeigt sich in die weltanschaulichen Frontstellungen, wie sie sich nur in Teilen Europas entwickelten, tief verstrickt. Im Verhältnis zur übrigen Welt nährte sie zudem den Glauben an eine überlegene Mission Europas für die ganze Welt. In den Vereinigten Staaten hat sich die Säkularisierungsthese nie voll entfalten können, und heute sieht sich die Mehrheit der amerikanischen Religionssoziologen im Recht, wenn sie sagt, bei der Säkularisierungsthese handele es sich um ein typisch europäisches Produkt. Die katholische Theologie hat früh nach dem Konzil von den sich neu entwickelnden außereuropäischen Theologien einen Spiegel vorgehalten bekommen, auf dem zu erkennen war, wie stark auch die katholische Theologie des 20. Jahrhunderts eine Fixierung auf das Säkularisierungsproblem erkennen lässt. Dass die Säkularisierungsthese eine eurozentristische Schlagseite besitzt, wird heute kaum jemand ernsthaft bestreiten wollen.

      Aus der Soziologie selbst hat der spanisch-amerikanische Soziologe José Casanova vor über 15 Jahren viele kritische Argumente zur Säkularisierungsthese gebündelt und mit Wucht vorgetragen. (vgl. Casanova 1994) Das Hauptproblem der Säkularisierungsthese sieht Casanova darin, dass sie in problematischer Weise Aussagen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, zur Abnahme individuellen Glaubens und zur Privatisierung der Religion zu einer einzigen These unentwirrbar miteinander verschränke. Die drei Prozesse müssen aus seiner Sicht als einzelne betrachtet werden. Hatte Casanova in den 90-er Jahren zumindest noch den Prozess der funktionalen Differenzierung als konstitutiv für moderne Gesellschaften betrachtet, so rückt er heute auch davon noch ab. Für die Entwicklungen im Verhältnis von Religion und Politik zum Beispiel sei die Säkularisierungsthese im Sinne funktionaler Differenzierung wenig instruktiv. Fruchtbarer sei es, von einer Vielzahl verschiedener Modelle wechselseitiger Tolerierung von Religion und Politik auszugehen. Offenkundig sei, dass mit Prozessen der Modernisierung nicht notwendig der Rückgang individuellen Glaubens verbunden sein müsse. Außer für den Westen Europas treffe dies empirisch einfach nicht zu. Am Beispiel so unterschiedlicher Phänomene wie der islamischen Revolution im Iran, der Befreiungstheologie in Lateinamerika, der Solidarnoszbewegung in Polen und der religiösen Rechten in den USA kann Casanova überzeugend belegen, dass auch von einem zwangsläufigen Zusammenhang von Modernisierung und Privatisierung der Religion nicht ausgegangen werden könne.

      Die Kritik der These von der Rückkehr der Religion

      Auch die These von der Rückkehr der Religion kann Bezug nehmen auf Max Weber. In der aufgewühlten Situation des Jahres 1917 in München formuliert er in einem berühmt gewordenen Vortrag zum Thema ‚Wissenschaft als Beruf‘: „Die alten, vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ Der siegreiche, moderne Kapitalismus – so Weber schon 1904 am Ende der ‚Protestantischen Ethik‘ – ist zu einem „stahlharten Gehäuse“ geworden. „Niemand weiß noch“, – so verweigert er sich einer Prognose – „wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden“ (Weber 61985, 605; 91988, 204). Heute machen zwei religiöse Expansionsbewegungen weltweit auf sich aufmerksam, auf die im Zusammenhang der These von der Wiederkehr der Religion gern verwiesen wird. Das pfingtlerische Christentum wächst augenblicklich an vielen Stellen der Welt mit einer erstaunlichen Dynamik. Dies trifft für große Teile Ostasiens zu, eingeschlossen Chinas. Mit atemberaubendem Tempo nehmen die charismatischen Gruppen schon seit einigen Jahren in Lateinamerika zu. Auch das südliche Afrika ist Schauplatz einer Expansion charismatischen Christentums. Mit Evangelikalen und katholischen Charismatikern überschreitet die Bewegung typischer Weise auch die Konfessionsgrenzen. Die zweite weltweite religiöse Expansionsbewegung ist uns in Europa präsenter: die des Islam. Dabei machen Europa und der Nahe Osten nicht einmal den vorrangigen Ort islamischer Expansion aus. Indonesien stellt inzwischen das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt dar. Außer in Ostasien und unter den Migranten Europas wächst der Islam auch in Schwarzafrika. Von einem von Westeuropa aus sich ausbreitenden Prozess der Säkularisierung im Sinne des Verschwindens von Religion ist augenblicklich wenig in der Welt zu spüren. Im Gegenteil: die Religion ist in vielen Teilen der Welt eindeutig im Vormarsch.

      Die These von der Wiederkehr der Religion bereitet aber ebenfalls nur schwer zu leugnende Schwierigkeiten. Wie schon die frühen Andeutungen Max Webers belegen, bleibt die These der Perspektive der Säkularisierung verhaftet. Wer von einer Wiederkehr spricht, setzt voraus, dass vorher eine Abreise bzw. Abkehr stattgefunden hat. Die These von der Wiederkehr der Religion teilt damit die Probleme, die im Zusammenhang mit der Säkularisierungsthese angesprochen wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wiederkehrthese denjenigen europäischen Intellektuellen besonders plausibel erscheint, die bis vor Kurzem noch die Religion im unaufhaltsamen Prozess des Verschwindens sahen.

      Man muss die Argumentation von Ronald Inglehart und Pippa Norris nicht teilen, um insbesondere mit dem Blick auf Europa gegenüber der These der Wiederkehr der Religion ein Unbehagen zu empfinden. Inglehart und Norris halten trotz der weltweiten religiösen Expansionsprozesse an der klassischen Säkularisierungsthese fest. (vgl. Norris/Igelhart 2004) Sie deuten die empirischen Hinweise auf eine Wiederkehr der Religion an vielen Stellen der Welt gewissermaßen als eine vorübergehende Delle im Verdrängungsprozess der Religion. Diese lasse sich einfach dadurch erklären, dass in vielen Teilen der Welt die Armut nicht ab-, sondern zunehme. Wo sich aber Armut ausbreite, dort kehre auch – darüber brauche man sich nicht zu verwundern – die Religion zurück. Wenn und soweit es gelinge, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern und sicherer zu machen, komme es auch wieder zu dem bekannten Zusammenhang von Anhebung des materiellen Lebensstandards und dem Verschwinden der Religion. Theoretisch erweisen sich Inglehart und Norris als Verfechter einer allzu einfachen These einer Kompensationsfunktion der Religion. Diese ist schwer mit der Einsicht in die Vielfalt von Funktionsbezügen der Religion in Einklang zu bringen. Empirisch müssen sie mit Blick auf den Fall der Vereinigten Staaten die Aufmerksamkeit ganz auf die Dimension der Sicherheit bzw. Unsicherheit lenken. Die ungesicherten Lebensverhältnisse als den alleinigen Verursacher für die Religiosität in den USA in Anschlag zu bringen, bleibt aber wenig überzeugend.

      Der eigentliche kritische Testfall für die These der Wiederkehr der Religion bleibt das westliche Europa. Befürworter wie Gegner der Säkularisierungsthese sind sich soweit einig, dass das westliche Europa seit den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Prozess der Schwächung der kirchlich verfassten Religion erlebt. Ohne, dass es Anzeichen eines Trendumkehrs gäbe, nehmen seit dieser Zeit Kirchenmitgliedschaft und regelmäßiger Gottesdienstbesuch ab, sinkt der Einfluss der Kirchen auf die religiösen Überzeugungen und moralischen Orientierungen der Menschen und verliert eine kirchlich geprägte Lebensführung an institutioneller Absicherung. Was macht man mit diesem

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