Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft. Группа авторов
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Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, in: J. Winckelmann (Hg.), Tübingen 61985.
Norris, P./Inglehart, R., Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.
Rudolf Englert
Geht das: Fromm sein, ohne zu glauben? Ein Beitrag zum Verständnis intermediärer Religiositätsformate
Polarisierungs- und Nivellierungstendenzen im Feld des Religiösen
In Deutschland wird Religion immer häufiger zum Politikum. Wieviel Kruzifix, wieviel Kopftuch, wieviel Burka, wieviel Minarett darf sein? Soll es an den öffentlichen Schulen konfessionellen Religionsunterricht geben oder besser Ethik für alle? Darf eine atheistische Initiative auf den Bussen kommunaler Verkehrsbetriebe für eine Weltanschauung ohne Gott werben? Muss eine Theaterinszenierung abgesetzt werden, weil sie die religiösen Empfindungen bestimmter Gläubiger verletzt? Usw.
Solche Streitfälle spielen in der öffentlichen Wahrnehmung von Religion eine große Rolle. Naturgemäß treten dabei jene Gruppierungen besonders in den Vordergrund, die diese Streitfälle auslösen oder besonders sensibel auf sie reagieren. Das sind in der Regel Gruppierungen mit scharf profilierten Einstellungen in religiösen Fragen, z.B. fundamentalistische Christen, die an Abtreibungskliniken tätige Ärzte mit dem Tod bedrohen oder militante Islamisten, die religionskritische Künstler und Journalisten auf eine Abschussliste setzen. Oder es sind polemische Atheisten wie Dawkins, die auf Religion und Kirchen einschlagen, als hätte sich dort seit dem „Syllabus errorum“ von 1864 nichts geändert.
Vor diesem Hintergrund entsteht in der Öffentlichkeit schnell das Bild einer in religiösen Fragen polarisierten Gesellschaft. Nun wird man tatsächlich sagen können, dass sich im Feld der Religion gesellschaftlich derzeit eine Menge tut und dass es in diesem Feld sehr markante Akteure gibt. Dies gilt
- erstens ganz besonders für den Islam, der in Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland heute unübersehbar präsent ist. Die europäische Moderne bekommt es hier mit Gläubigen zu tun, die vielfach einen Glaubensstil repräsentieren, den man in den urbanen Zentren des Westens endgültig hinter sich zu haben meinte: einen Glauben mit starkem Milieubezug, mit hoher Verbindlichkeit und relativ geringen individuellen Freiheitspielräumen. Dieser Glaube konfrontiert die Gesellschaft mit einem Maß religiöser Empfindlichkeit, das man sich in christlich geprägten Ländern weitgehend abgewöhnt hatte. Und so sehen sich die durch die Aufklärung geprägten Staaten Europas durch Bürger islamischen Glauben gezwungen, ihr eigenes Verhältnis zu Religion und Religionen zu überdenken und zu definieren.
- Ein zweiter markanter Akteur im Feld der Religion ist der religiöse Fundamentalismus sowie gewisse Formen religiösen Neokonservativismus. Dieser Religiositätstypus drängt den von der Erfahrung religiöser Pluralität ausgehenden Relativierungsdruck beiseite und katapultiert sich sozusagen mit einem dezisionistischen Ruck aus der religiösen Multioptionsgesellschaft heraus. Für diesen Typus gibt es nur einen Gott, einen Glauben, eine Wahrheit, eine Kirche. Es wäre völlig verkehrt, diese Form von Religiosität für ein Modell aus der Mottenkiste zu halten. Vielmehr ist es so, dass die Religionen heute weltweit vor allem da an Boden gewinnen, wo sie ein scharfes Profil zeigen und missionarisch mit eindeutigen Heilsversprechungen ungeniert in die Offensive gehen. In europäischen Ländern ist die Anhängerschaft der Nachfolger Billy Grahams zwar noch eine kleine Minderheit, aber gerade unter religiös sehr sensiblen jungen Leuten wächst auch hier die Zahl derer, die Eindeutigkeit wollen. Aus ihrer Sicht verlangt Religion vor allem Einverständnis, nicht Auseinandersetzung. Dies korrespondiert vielfach mit schwachreflexiven Formen charismatischer Frömmigkeit und mit neuen Formen des Klerikalismus.
- Ein dritter markanter Akteur ist der sogenannte Neue Atheismus (vgl. z.B. Striet 2008). Auch dieser wird vor allem da wahrgenommen, wo er zur Überdeutlichkeit tendiert. Ähnlich wie man fundamentalistisches Eindeutigkeitsstreben als Reaktion auf den Relativierungsdruck der Moderne ansehen kann, kann man den Neuen Atheismus als Reaktion auf fundamentalistische Eindeutigkeiten betrachten. Das trifft zwar nicht für alle seine Vertreter gleichermaßen zu, sehr wohl aber für die polemische Vorhut à la Dawkins oder Schmidt-Salomon. Wenn man deren Auslassungen genauer prüft, zeigt sich, dass sie das argumentative Niveau klassischer Religionskritiker wie Feuerbach, Marx, Freud oder Nietzsche nicht annähernd erreichen. Von daher ist der Atheismus dieser naturwissenschaftlich gebildeten Laientheologen jedenfalls weniger neu als dürftig. Doch auch hier zeigt sich: Gerade in einer solch reduzierten und simplen Gestalt erreicht dieser Akteur im Feld der Religion eine breite Aufmerksamkeit.
Diese drei Akteure: ein offensiver bis militanter Islam, ein neokonservatives bis fundamentalistisches Christentum und ein polemischer Atheismus haben einen starken Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Religion. Sie prägen das Bewusstsein von der religiösen Gegenwartssituation in einem Maße, die ihre reale Verankerung in der Bevölkerung um Längen übertrifft. Nur etwa vier Prozent der westdeutschen Bevölkerung gehören dem Islam an, und davon ist nur eine deutliche Minderheit islamistischen Strömungen zuzurechnen. Auch der christliche Fundamentalismus ist in Deutschland ein Minderheitenphänomen, selbst wenn sich dies aus der subjektiven Sicht kirchlicher Insider vielleicht etwas anders darstellen sollte. Der dezidierte weltanschauliche Atheismus schließlich ist in der westdeutschen Bevölkerung geradezu verschwindend gering ausgeprägt. Wohlgemerkt: in Westdeutschland – in den östlichen Bundesländern, wo es 68 Prozent Konfessionslose gibt (Bertelsmann Stiftung 2009, 103), sieht dies anders aus. Das wirft die Frage auf: Was ist eigentlich mit dem Rest der Bevölkerung? Wenn diese so auffälligen drei Akteure nur einen sehr kleinen Teil des religiösen Feldes besetzen, wer nimmt dann den Rest dieses Feldes ein?
Damit kommen wir zu einem Phänomen, das aus meiner Sicht nicht weniger aufschlussreich ist als die im Vordergrund stehenden religiösen Konflikte: dem Phänomen einer Gesellschaft, die in religiöser Hinsicht auf eine unbestimmte Mitte hin konvergiert. Ein wenig überspitzt gesagt, ist meine These: So sehr der religiöse Diskurs in der medialen Öffentlichkeit durch hochprofilierte Akteure bestimmt wird, so sehr ist das reale religiöse Leben der Menschen heute durch Unbestimmtheit, Identifikationsprobleme und intermediäre Religiositätsformate geprägt. Mit anderen Worten: Wo früher zwischen Theisten und Atheisten, zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen kirchlich Engagierten und religiös Ungebundenen klare positionelle Differenzen bestanden, sind die Grenzen mittlerweile verschwommen. Bei empirischen Untersuchungen zeigt sich: Es hängt mitunter von winzigen Akzentuierungen in der Fragestellung ab, ob ein bestimmter Befragter am Ende dem „Lager“ der Theisten, der Agnostiker oder der Atheisten zugerechnet wird. Dieser wachsenden religiösen Mitte soll die folgende Betrachtung gelten.
Die Zunahme intermediärer Religiositätsformate
Nach einer der wichtigsten in letzter Zeit zur religiösen Gegenwartssituation durchgeführten Untersuchungen, dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung (2008), bezeichnen sich 58 Prozent der Menschen in Westdeutschland als religiös (Bertelsmann Stiftung 2009, CD 37). Nun kann man natürlich fragen: Was bedeutet das? Was steckt hinter dieser Selbsteinschätzung? Aber zunächst einmal ist diese Zahl, gerade in Anbetracht einer diagnostizierten „Gottesverdunstung“ (vgl. Mette 2009), einfach erstaunlich. Wenn man von diesen 58 Prozent nun jene kleine Minderheit von 7 Prozent abzieht, die sich für „sehr religiös“ hält, kommt man zu jener großen Menge von Menschen, die ich als die religiöse Mitte bezeichnen würde. Diese Mitte ist durchaus kein Einheitsbrei, denn dort finden sich sowohl Kirchenmitglieder als auch Konfessionslose. Es finden sich dort Kirchenmitglieder ohne starke religiöse Überzeugungen und Konfessionslose mit ausgeprägten religiösen Bedürfnissen. Das heißt, es gibt hier sowohl, was die britische Religionswissenschaftlerin Grace Davie „belonging without believing“ nennt, als auch