Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft. Группа авторов

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Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft - Группа авторов Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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zwischen Kirchlichkeit und Religiosität eine scharfe Kluft anzunehmen, die alternative, außerkirchliche Religiosität als die eigentliche Religiosität zu betrachten und der kirchlichen Religion einen marginalen, vernachlässigbaren Status zuzuschreiben. Damit gerät die Position einer Wiederkehr der Religion auch in Europa aber in Widerspruch zu schwer zu leugnenden empirischen Tatsachen. Zwei seien besonders hervorgehoben: Die anwachsenden Phänomene einer alternativen Religiosität haben ihren Ort nicht jenseits, sondern primär im Umfeld der Kirchen. Wo die kirchliche Religion geschwächt ist, findet auch die alternative Religiosität keinen Nährboden. Dies ist eine der Schlussfolgerungen, die sich aus der Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in den Neuen Bundesländern nach 1989 ziehen lässt. Die von vielen erwartete breite Rückkehr zu den Kirchen fand nach 1989 nicht statt. Es gab aber auch keine nennenswerte Hinwendung zu Formen alternativer Religiosität. In Westdeutschland sind Phänomene alternativer Religiosität in signifikant höherem Maße zu beobachten als in Ostdeutschland.

      Zu den Phänomenen – ich komme zum zweiten Argument – einer Wiederkehr der Religion gehört wiederum unbestritten eine gewisse neue Sichtbarkeit der Religion bzw. eine Wiederkehr der Religion in den öffentlichen Raum. Wenn man danach fragt, welche Religion heute primär in die Öffentlichkeit zurückkehrt, so ist es wiederum nicht die alternative Religiosität. Vielmehr sind es primär weltweit, aber auch in Europa, die alten Kirchen und die außerchristlichen traditionelle Religionsgemeinschaften. José Casanova hat als erster mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die traditionellen Religionsgemeinschaften die primären Träger dessen sind, was er die De-Privatisierung der Religion nennt. Ich komme zu dem Schluss, dass es gute Gründe gibt, heute sowohl die Säkularisierungsthese als auch die These von der Wiederkehr der Götter als unbefriedigend zu betrachten. Deshalb erscheint es mir geboten, nach einen Konzept zu suchen, das die gegenwärtige religiös-kirchliche Lage besser zu erklären vermag als die beiden alternativen Positionen.

      Multiple Modernen und religiöse Modernisierung

      In einer gegenwärtig noch andauernden Debatte um die Kritik der älteren Modernisierungstheorie sind die Einwände noch einmal verschärft worden. War man sich bisher sicher, dass die Kernelemente der Moderne – wie etwa eine liberal-kapitalistische Wirtschaftsentwicklung und Demokratisierungsprozesse – sich wechselseitig notwendig bedingen, so ist man heute bei der Annahme notwendiger Zusammenhänge vorsichtiger geworden. Eine scharfe Gegenüberstellung von Tradition und Modernität – so ein weitere Einsicht – macht wenig Sinn. Vielmehr wirken Traditionen in der Moderne weiter und spiegeln sich in eigenen Formen von Modernität wider. Damit entspricht heute die Vorstellung von Modernisierung mehr einer Arena möglicher Optionen und Wege als einem gerichteten Prozess. Auf der Linie einer konsequenten Öffnung des Spielraums der Moderne liegt auch, wenn etwa Phänomene des Fundamentalismus als Alternativen in der Moderne und nicht als Alternativen zur Moderne in den Blick kommen. Shmuel Eisenstadt hat für die skizzierte Öffnung des Modernisierungskonzepts die Formel von der „Vielfalt der Moderne“ oder von den „multiplen Modernen“ eingeführt. (vgl. Eisenstadt 2000)

      Meine These ist die, dass das Konzept der multiplen Modernen die Chance bietet, jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Religion eine angemessene Perspektive für die Entwicklung von Religion und Christentum heute zu gewinnen. Eine erste, weitreichende Konsequenz besteht darin, Religion entschieden in und nicht jenseits der Moderne zu verorten. Die immer wiederkehrenden Spannungen zwischen Religion und Modernität sind typisch moderne Phänomene und keineswegs ein Zeichen dafür, dass die Religion irgendwie nicht zur Moderne gehört bzw. passt. Konflikte zwischen den Wertsphären – so schon Max Weber – machen gerade ein zentrales Charakteristikum der Moderne aus.

      Mit einem kurzen Blick auf die Soziologie des Katholizismus lässt sich die Fruchtbarkeit der angesprochenen Perspektive verdeutlichen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfindet sich der Katholizismus in der Moderne und als modernes Phänomen gewissermaßen neu. Die katholische Kirche nimmt erst im 19. Jahrhundert die uns so vertraute, zentralisierte organisatorische Gestalt an. Die Päpste werden Träger eines spezifischen modernen Charismas. In den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts nutzen die katholischen Akteure die Chance zu einer umfassenden Milieubildung unter den Katholiken. Sie fußt auf der Entfaltung eines eigenen Vereinswesens, einer eigenen Weltanschauung, eigenen Institutionen und eigenen, dem Alltag Struktur gebenden Ritualisierungen. In Revision meines früheren Sprachgebrauchs würde ich heute mit Blick auf den Katholizismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr von einem Amalgam aus Tradition und Modernität sprechen. Es handelt sich vielmehr in seiner Gänze um ein modernes Phänomen. (vgl. Hellemanns 2010) Die Neuerfindung des Katholizismus in der Moderne des 19. Jahrhundert ist nicht die letzte geblieben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der Katholizismus sich heute erneut in einem Prozess der Findung bzw. Erfindung befindet. Der gesellschaftliche Kontext bildet die Zäsur zwischen einer industriegesellschaftlichen und einer entfalteten Moderne oder zwischen erster und zweiter Moderne, wie Ulrich Beck formuliert. Das Zweite Vatikanum (1962-1965) fällt schon rein zeitlich in die Phase der Zäsur zwischen erster und zweiter Moderne.

      Die Vorteile einer Theorie religiöser Modernisierung im Kontext eines Konzepts multipler Modernen gegenüber der Säkularisierungstheorie wie der These von der Wiederkehr der Religion lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Konzeptionell bekommt die Religion wieder einen Platz in der Moderne; ihre Stellung ist nicht mehr theoretisch im Sinne einer gesellschaftlichen Randposition vorentschieden. Die Modernisierungsprozesse innerhalb der Religionen können in den Blick kommen und eine angemessen Berücksichtigung finden. Auch fundamentalistische religiöse Bewegungen lassen sich als Phänomene innerhalb der Moderne identifizieren. Die Vielfalt der Moderne lässt unterschiedliche Modelle im Verhältnis von Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu. Für die religiösen Traditionen bleibt die Herausforderung, sich in der Moderne jeweils neu erfinden zu müssen. Dies gilt gerade auch für die religiösen Akteure, die nur die Tradition und nichts als die Tradition fortsetzen wollen. Für die kirchlichen Akteure in Europa bietet das Konzept die Chance, sich von der Prägung durch ein folgenreiches Säkularisierungsbewusstsein zu lösen. Im westlichen Europa hat dieses nach wie vor die Wirkung einer „Sichselbst-erfüllende-Prophezeiung“ – es bringt zu einem guten Teil erst das hervor, was es als sicher für die Zukunft erwartet.

      Aber auch gegenüber der These der Wiederkehr der Religion bietet die Konzeption der multiplen Modernen bessere Chancen, die religiöskirchliche Lage einsichtig und verstehbar zu machen. Sie besitzt eine größere Übereinstimmung mit der empirischen Datenlage für das westliche Europa. Sie vermag die Entwicklungen innerhalb der kirchlich verfassten Religion differenzierter wahrzunehmen und zu interpretieren. Im Unterschied zur These der Wiederkehr der Religion verfügt sie über ein konzeptionelles Verständnis von Modernität. Sie lenkt damit das Interesse auf die Bedingungen, unter denen die Religionen in der Moderne zu agieren haben. Sie hat die Spannungen im Verhältnis von Religion und Politik und die Vielfalt von Verflechtungsmodellen beider innerhalb der Moderne im Blick. Sie wird der religiösen Signatur der Gegenwart besser gerecht: die Religionen bleiben, aber sie wandeln ihr Gesicht.

      Literatur

      Casanova, J., Public Religions in the Modern World, Chicago/London 1994.

      Eisenstadt, S. N., Die Vielfalt der Moderne, Weilerwist 2000.

      Hellemans, S., Das Zeitalter der Weltreligionen. Religion in agrarischen Zivilisationen und in modernen Gesellschaften, Würzburg 2010.

      Mette, N., Kirchlich distanzierte Christlichkeit. Eine Herausforderung für die praktische Kirchentheorie, München 1982.

      Ders., Religionssoziologie – katholisch. Erinnerungen an religionssoziologische Traditionen innerhalb des Katholizismus, in: K. Gabriel/F.-X. Kaufmann, Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980, 39-56.

      Krech, V./Tyrell, H. (Hgg.), Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995.

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