Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz. Markus Mäurer
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Was die oft kritisierte mangelnde Ausrichtung der Berufsbildung auf die Dienstleistungsbranche betrifft, braucht es aus der Perspektive des Bundes keine grundsätzliche Reform, insbesondere was die Form der beruflichen Grundbildung angeht. Die in der gegenwärtigen Version des BBG festgehaltene Kooperation der Lernorte und die zentrale Rolle der «Bildung in beruflicher Praxis», die letztlich als Kern der starken Arbeitsmarktorientierung der Berufsbildung betrachtet wird, sollen weiterhin den Rahmen beruflichen Lernens auf der Sekundarstufe II bilden. Dabei nimmt man in Kauf, dass der wachsende Dienstleitungssektor im Verhältnis zu wenig Ausbildungsplätze anbietet, nicht zuletzt deswegen, weil viele Abgängerinnen und Abgänger einer beruflichen Grundbildung in industriellen und gewerblichen Berufen nach ihrem Abschluss eine Anstellung im Dienstleistungssektor finden. Dank der Flexibilität der Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung könne deshalb, so die frühere BBT-Direktorin Ursula Renold in einem Interview, von einem eigentlichen Strukturproblem nicht gesprochen werden (Fleischmann, 2011, S. 43). Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass die Bundesbehörden Berufsbildungsmarketing als eine wichtige Stütze der Berufsbildungspolitik betrachten. Damit sollen nicht nur Jugendliche für die berufliche Grundbildung gewonnen, sondern auch Betriebe von einer Beteiligung an der beruflichen Grundbildung überzeugt werden (Knutti, 2010). Die Verbreitung von Erkenntnissen aus der Bildungsökonomie spielt dabei eine zentrale Rolle; sie zeigen, dass sich die Beteiligung an der beruflichen Grundbildung für eine grosse Mehrheit der Betriebe bereits während der Ausbildungszeit lohnt (Dionisius et al., 2009; Strupler & Wolter, 2012; Wolter, 2008).
Politisch wesentlich mehr Beachtung haben die ausbildungspolitischen Herausforderungen im MINT-Bereich erhalten, was sich etwa darin zeigt, dass zahlreiche Parlamentarier der Bundesversammlung entsprechende Postulate einreichten, die vom Bundesrat in einem umfassenden Bericht beantwortet wurden (Schweizerischer Bundesrat, 2010a). Der Bundesrat ortet die Gründe für den Fachkräftemängel im MINT-Bereich vor allem in der Volksschule und im Gymnasium, also in jenen Bereichen des Bildungssystems, deren Steuerung in der Verantwortung der Kantone liegt. Was die Berufsbildung betrifft, weist der Bundesrat darauf hin, dass immerhin 38 Prozent der Abschlüsse in der beruflichen Grundbildung dem MINT-Bereich zuzurechnen seien, dass die Berufsmaturität eine wichtige Zubringerin für Fachhochschulen darstelle und dass insbesondere die höhere Berufsbildung eine wichtige Rolle spiele, zeichne diese Form von Ausbildung doch «für zwei von fünf Diplomen im MINT-Bereich auf der Tertiärstufe verantwortlich» (Schweizerischer Bundesrat, 2010a, S. 9). Grundsätzlichen Reformbedarf in der Berufsbildung orten die Behörden dabei nicht, da das aktuelle Berufsbildungsgesetz Raum für branchenspezifische Lösungen biete: Die Berufsbildung, so das SECO und das BBT in einem gemeinsamen Bericht zu einer Lehrstellenkonferenz, die sich mit dem Thema befasste, könne auf der Grundlage des aktuellen Gesetzes strukturelle Ungleichgewichte ausgleichen, indem neue Bildungsgänge und Organisationsformen entwickelt würden, «die auf die Bedürfnisse der Arbeitswelt von morgen ausgerichtet» seien (SECO & BBT, 2008, S. 3).
Die Entwicklung neuer Bildungsgänge und Organisationsformen ist jedoch keineswegs einfach. Das zeigen Versuche, den Fachkräftemangel mit Massnahmen im Bereich der beruflichen Grundbildung anzugehen, von denen wir zwei im Folgenden darstellen wollen. Da es sich um Reformen zur Ausbildung im Gesundheitsbereich und in der Informatik handelt, sind beide Beispiele auch relevant für die Herausforderungen in der beruflichen Grundbildung in Dienstleistungsberufen.
Reformen in der beruflichen Grundbildung zum Ausgleich struktureller Ungleichgewichte
Massnahmen im Bereich Informatik
Während die öffentliche Debatte um den Fachkräftemangel im MINT-Bereich erst seit Ende des letzten Jahrzehntes an Schwung gewonnen hat, ist die Debatte um den Mangel an ausgebildeten Informatikern ein gutes Jahrzehnt älter – und sie betraf und betrifft ganz zentral auch die Berufsbildung. Der Arbeitsmarkt für Informatiker begann in den 1990er-Jahren stark zu wachsen, doch mangels Tradition der Betriebslehre war das Angebot an Ausbildungsplätzen auf der Stufe der beruflichen Grundbildung ungenügend. Da der Mangel just in jenen Jahren offenkundig wurde, in denen der aufgrund der wirtschaftlichen Rezession der 1990er-Jahre entstandene Mangel an Ausbildungsplätzen an politischer Brisanz gewann, erschien es den Bundesbehörden wichtig, die im Zusammenhang mit der Umsetzung des Lehrstellenbeschlusses I vorhandenen Gelder zu einem Teil auch für die Förderung der Berufsausbildung von Informatikern einzusetzen (Gertsch & Gerlings, 2001, S. 23).
Die Entscheidungsträger erkannten als zentralen Grund für den Mangel an Ausbildungsplätzen sehr bald ein wesentliches Problem: Den Betrieben fehlte es an Zeit, den Lernenden berufspraktische Grundfertigkeiten zu vermitteln, mit denen diese sich etwa an einfacheren Programmiertätigkeiten beteiligen könnten. Vor diesem Hintergrund lancierte das BBT das Projekt «Modellversuche Basislehrjahr Informatik», das an sieben Orten der Schweiz implementiert wurde. Ziel war es, durch ein praktisch orientiertes, jedoch vergleichsweise stärker schulisch organisiertes Grundjahr Lernenden innerhalb eines Jahres berufliche Grundfertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie während der übrigen Jahre der beruflichen Grundbildung leichter in die Arbeitsprozesse der Betriebe eingebunden werden konnten. Eine Evaluation des Modellversuchs legte nahe, dass das neue Ausbildungsmodell Anklang fand: Die Betriebe – so zeigte die Studie – waren zwar der Meinung, dass die Lernenden nach einem Jahr zwar noch über wenig praktische Erfahrung verfügten, doch bestätigten 90 Prozent der befragten Betriebe, «dass sie Basislehrjahre als angemessene Form der Berufseinführung in anspruchsvollen Berufen wahrnehmen» (Jäger, 2001, S. 3).
Da die weitere Finanzierung von Basislehrjahren durch den Bund oder die Übernahme dieser Aufgabe durch die Kantone deutliche Mehrkosten für die öffentliche Hand mit sich gebracht hätte, lag es nach Abschluss der Modellversuche an den interessierten Branchenverbänden und Betriebsverbünden, Basislehrjahre anzubieten. Kritische Beobachter bemängeln aber, dass privatwirtschaftliche Initiativen selten seien, dass das entsprechende Angebot zu wenig gross sei und dass sich der Bund deshalb stärker für die Weiterverbreitung des Modells Basislehrjahr einsetzen sollte (vgl. z. B. Galladé, 2008). Doch die Behörden verweisen – sicherlich auch mit Blick auf die beschränkten finanziellen Ressourcen – darauf, dass die Basislehrjahre trotz des dafür geschaffenen offenen Rahmens des BBG offensichtlich zu wenig den Bedürfnissen der Arbeitswelt entsprechen. Der Bund werde deshalb diese Form der beruflichen Grundbildung finanziell nicht stärker unterstützen; dies wäre, wenn schon, Aufgabe der Organisationen der Arbeitswelt (Schweizerischer Bundesrat, 2008).
Vor dem Hintergrund mangelnder privater Initiativen entwickelte sich jedoch, bereits während die Modellversuche zum Basislehrjahr liefen, in einigen Kantonen der Deutschschweiz eine Ausbildungsform, die noch umfassender auf eine schulische Grundausbildung absetzt – und die öffentliche Hand auch teurer zu stehen kommt als das Basislehrjahr. Es handelt sich dabei um das Modell der Informatikmittelschule. Diese führt nach drei Jahren berufsorientierter Schulbildung – oft an einem Gymnasium angesiedelt – und einem Praxisjahr zu einem EFZ als Informatiker/in im Bereich Applikationsentwicklung und einer kaufmännischen Berufsmaturität. Ähnlich wie das Basislehrjahr für Informatiker wurde diese neue Ausbildungsform zunächst auf Bundesebene vorangetrieben, und zwar im Zusammenhang mit der Umsetzung des Lehrstellenbeschlusses II (Gertsch & Gerlings, 2001, S. 23f.). Nach Abschluss des Projektes «Einführung der Informatikmittelschule» wurde dieses verhältnismässig teure Engagement des Bundes nicht mehr weitergeführt. Es lag jedoch in der Kompetenz der Kantone, das Modell weiterzuentwickeln und auch selbst zu finanzieren (Regierungsrat des Kantons Zürich, 2010). Heute gibt es in der Deutschschweiz sieben solche Schulen, in der lateinischen Schweiz fehlen sie noch (ICT-Berufsbildung Schweiz, 2012a, 2012b). Aufgrund der hohen Nachfrage nach Ausbildungen im Informatikbereich entwickelten sich jedoch zunehmend auch private vornehmlich schulisch organisierte Ausbildungen, die nach vier Jahren ebenfalls zum EFZ, nicht jedoch zur Berufsmaturität führen