Lernen ist meine Sache (E-Book). Dagmar Bach
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Die fünf Porträts könnten herangezogen werden, um die Vielfalt in der beruflichen Grundbildung zu belegen, die oft zitierte Heterogenität mit Gesichtern und Geschichten zu bebildern und sie noch mit dem Nachsatz zu unterstreichen, dass die Wirklichkeit noch viel differenzierter sei. Nicht das ist der Zweck der Porträts und dieses Textes, genauso wenig wie ein weiteres Mal die Schwierigkeiten von Klassen- und Unterrichtsführung zu beschwören. Es geht hier um das genaue Gegenteil von Wehklage, nämlich darum, pädagogische Optionen zu denken und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Lernen auch unter erschwerten Bedingungen in Gang kommen kann. Dafür, dass fünf reale Menschen herhalten müssen, um daraus Prototypen zu destillieren, entschuldige ich mich bei ihnen, und gleichzeitig bedanke ich mich, dass sie mir die Augen geöffnet haben für den anderen, den zweiten Blick. Fortan stehen die Namen, beziehungsweise die sie repräsentierenden Lettern, nicht mehr für lebendige Menschen, sondern für Kategorien.
Typ A ist aus Sicht der Lehrperson eine scheinbar problemlose Schülerin. Besondere Aufmerksamkeit erfordern nicht Defizite in Leistung und Verhalten, sondern das schlummernde, brachliegende Potenzial.
Typ B lernt aus innerer Überzeugung, er will gefördert werden und nimmt vorhandene Förderangebote auch an. Er benötigt keine individuellen, auf ihn abgestimmten Massnahmen, sondern holt sich aus dem Angebot das, was ihm nützlich scheint und seine aktuellen Lernbedürfnisse befriedigt.
Typ C bringt wenig erkennbare Lernmotivation mit. Übereinstimmungen zwischen subjektiven Interessen und dem Lernangebot sind nicht augenfällig. Typ C erfordert von den Lehrpersonen ein unvoreingenommenes, genaues Hinsehen und Hinhören, um eine Passung zwischen Interesse und Angebot zu erreichen. Es fehlt Typ C nicht primär an kognitiven oder stofflichen Voraussetzungen.
Typ D steht für Lernende, die einer spezifischen individualisierten Förderplanung bedürfen, welche nur dann erfolgversprechend ist, wenn sie sich auf erlebte Selbstwirksamkeit und echte Erfolgserlebnisse abstützt.
Typ E stellt Fragen nach grundsätzlicher Sinnklärung bezüglich Berufswahl und Lebensplanung in den Vordergrund.
Pädagogisch erfolgreich handelt, wer ein Sensorium entwickelt hat, das ihm zu erkennen erlaubt, weshalb Lernen nicht gelingt. Die Klippen im bestehenden System von Schule wie auch in der beruflichen Grundbildung orten zu können, hilft, sie zu umgehen. Das nächste Kapitel wirft einen systematischen, aber unvollständigen Blick auf Lernhemmnisse und nennt eine Reihe von strukturellen und habitualisierten Mechanismen, die weitverbreitete Lernbehinderungen verursachen. Im dritten Kapitel folgen Überlegungen und Postulate zur Kontraindikation, der pädagogischen Lernförderung, im vierten werden didaktische Optionen vorgestellt und Bausteine zum Ausprobieren angeboten.
Lernhemmnisse – warum Lernen oft nicht gelingt
Lernen ist ein urmenschlicher, natürlicher Vorgang, wahrscheinlich gar eine anthropologische Existenzbedingung. Wir befassen uns hier aber mit angewandter Pädagogik, nicht mit Anthropologie, und speziell mit der Frage, was zu tun ist, wenn Lernen nicht oder nur verzögert stattfindet. Oder, und das kommt der Wirklichkeit näher, wenn Lernen nicht im erwünschten Ausmass oder in der erwarteten Geschwindigkeit stattfindet. Dass Lehrpersonen ihr Lehren planen können, jedoch nicht das Lernen ihrer Schüler und Schülerinnen, ist zwar keine neue Erkenntnis, wird aber im schulischen Alltag nur allzu oft übersehen, unter Missachtung der Formel «Gelehrt ist nicht gelernt».
Lernbehinderungen und Lernhemmungen
Wird Lernen schwierig, ist oft von Lernschwierigkeiten die Rede. Ein Terminus, der in diesem Text nicht mehr weiter vorkommen wird und allgemein aus pädagogischen Texten verbannt werden sollte. Er suggeriert, dass da etwas mit einem Menschen nicht stimmt, und blendet aus, dass die Schwierigkeiten meistens ganz woanders angesiedelt sind als bei der Schülerin oder beim Schüler. Die nachfolgenden Begriffe sind wesentlich geeigneter, um pädagogisches Handeln in Gang zu setzen. Auf streng wissenschaftliche Definitionen und Taxonomien wird verzichtet, für den pädagogischen Alltagsgebrauch genügen die folgenden Begriffsbestimmungen:
•Lernbehinderungen sind im eigentlichen Wortsinn real vorhandene Hindernisse beim schulischen Lernen und nicht als subjektive Defekte zu verstehen. Auch wer mit einer Diagnose behaftet ist (ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyslexie, Autismus …), ist lernfähig und sollte aus pädagogischer Warte nicht auf seine Diagnose reduziert, sondern als ein lernfähiges Subjekt betrachtet werden. Pädagogische Arbeit ist nicht therapeutische Arbeit. Defekte und Störungen zu diagnostizieren und im Anschluss daran zu behandeln, ist Aufgabe der dafür ausgebildeten Therapeutinnen und Therapeuten. Pädagoginnen und Pädagogen schaffen Arrangements, um Entwicklungen zu fördern – Entwicklungen von Personen, so wie sie sind. Die pädagogische Relevanz einer Lernbehinderung liegt nicht im Defekt einer Person, sondern in den Ansprüchen, denen sie mit ihren spezifischen individuellen Voraussetzungen zu genügen hat.
•Lernhemmungen sind natürliche Widerstände, «die prinzipiell in jedem menschlichen Lernprozess enthalten und zu überwinden sind», denn «lernen muss man das, was man noch nicht kann. Und was man noch nicht kann, lernt man selten auf Anhieb. Deshalb gehören Lernhemmungen ebenso zum menschlichen Lernen wie die Lernfähigkeiten einerseits und Lernaufgaben andererseits» (Hauschildt, 1998, S. 143f.). So gesehen, sind Lernhemmungen sinnvoll und als normale menschliche Disposition zu akzeptieren, keinesfalls sind sie ein therapiebedürftiges Persönlichkeitsmerkmal.
•Lernhemmnisse umfassen Lernbehinderung und Lernhemmungen.
Lernhemmnisse hemmen das Lernen. So trivial die Aussage, so klar das Gegenmittel: Lernbehinderungen müssen aus dem Wege geräumt oder umgangen werden, wenn das Beseitigen zu aufwendig ist. Lernhemmnissen ist mit einer pädagogischen Grundhaltung zu begegnen und mit jenen didaktischen Mitteln beizukommen, die Lernprozesse überhaupt erst zulassen und im besseren Fall unterstützen.
Historisch-gesellschaftlich bedingte Lernbehinderungen
Eine ziemlich perfide Lernbehinderung ist geschichtlich verankert und gesellschaftlich geformt, sodass sie im Alltag fast unkenntlich, aber höchst facettenreich das schulische Lernen von früh an behindert.
Die staatliche Volksschule in der Schweiz hat ihren Ursprung im Gedankengut der Französischen Revolution und der liberalen Bewegungen in der Schweiz. Die Stossrichtung dieser Kräfte war die Befreiung von kirchlichen Dogmen und aristokratisch geprägter Unterordnung. Eine der Speerspitzen im Kampf dafür war die Bildung des Volkes durch eine neu zu schaffende Volksschule, durch Gymnasien und Universitäten. Das zentrale Anliegen dieser Volksbildungsbewegung war, die breite Bevölkerung, unabhängig von Herkunft und Vermögen, zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. In Zürich unterstand das Schulwesen bis 1830 der reformierten Landeskirche. Mit dem Unterrichtsgesetz von 1832 setzte die Staatshoheit über die Bildung ein. In seiner Ansprache «Volksbildung ist Volksbefreiung», die er 1836 vor dem Schweizerischen Volksbildungsverein hielt, forderte Heinrich Zschokke von der Volksschule, sie solle den Menschen von blindem kirchlichem Glauben frei machen und zu eigenständigem Denken erziehen. Wissen und Bildung für das gemeine Volk als Sprengstoff gegen klerikale und feudale Gefängnisse, als Hebel der Modernisierung und des bürgerlichen wie des sozialen Aufbruchs ist ein bald 200-jähriger Auftrag an die Schulbildung aller Stufen.
Dafür, dass die Befreiung nicht aus dem Ruder laufe, hat der Staat als neuer Volksschulträger frühzeitig gesorgt mit Instrumenten und Mechanismen, die noch immer dem bewahrenden Auftrag der Schule die Dominanz gegenüber dem emanzipatorischen verleihen. Verbindliche Lehrpläne halten fest, in welchen Fächern und mit welchen Inhalten all die nützlichen Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben, Handarbeit und Hauswirtschaft erlernt werden sollen. Um ganz sicherzugehen, dass die Schule das mit der Volksbefreiung nicht übertreibe und in erster Linie das Fundament lege für staatstreue