Lernen ist meine Sache (E-Book). Dagmar Bach
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Die normierende und bewahrende Funktion der Schule ist weitgehend im System abgesichert: im obligatorischen Pflichtprogramm und durch mannigfache Rituale und Konventionen, beispielsweise in Form von Bewertungen und Selektion, in der Ausbildung von Lehrpersonen, in Probelektionen und der (lohnwirksamen) Qualifikation bis zur Pensionierung. Das begründet die Dominanz dieser bewahrenden gegenüber der befreienden, der Selbstentfaltung verpflichteten Funktion. Diese hat ihren Platz – im besseren Fall – im Kürprogramm der Lehrpersonen. Wahlthemen und Randstunden, ausserordentliche Anlässe und Belohnungszugeständnisse sind die tolerierte Nebenbühne dafür.
Liegt es eventuell am Selbstverständnis der Lehrpersonen, dass emanzipatorische Ziele so oft das Nachsehen haben? Ich denke eher nicht, denn es gibt wohl wenige in ihren Reihen, die in ihrem pädagogischen Credo nicht Werte wie «Selbstentfaltung fördern» hochhalten. Und die Fachliteratur überquillt mit Appellen an die Lehrpersonen, sich, «über den Tellerrand hinaus ... als Agenten des Wandels ... mit Veränderungen auseinanderzusetzen, ... als kreative Mitgestalter der Schule als lernendes Unternehmen» (Müller, 2007). Weshalb also müht sich der Pädagoge als ein Sisyphos am Berg der Sachzwänge ab? Vorauseilender Gehorsam? Hat er das verhängnisvolle Götterurteil nie schriftlich verlangt, gar nie nachgefragt, ob es denn dieser schwere Brocken sein müsse, ob er ihn unbedingt allein stemmen müsse? Ist es ihm nie in den Sinn gekommen, wenigstens einmal ohne Ballast aufzusteigen und sich eine andere Perspektive zu eröffnen?
Lehrpersonen agieren in aller Regel auf der Grundlage eines mittelständisch geprägten, auf liberaler, christlicher Tradition ruhenden Bildungsverständnisses, das in unterschiedlicher Ausprägung die Bildungspläne aller Stufen durchdringt. Dient dieses Bildungsverständnis der gleichberechtigten Entwicklung aller Bildungssubjekte? Und fast noch wichtiger, inwieweit deckt es sich mit deren subjektiven Vorstellungen und Zielen? Im Klartext: Von sogenannt Bildungsfernen, von strukturell und/oder intellektuell Benachteiligten oder von Menschen mit Migrationsbiografien kann nicht ernsthaft erwartet werden, dass sie vorrangig am klassischen Bildungskanon interessiert sind und willig auf den hinteren Plätzen sitzen bleiben, wenn vorne die gesellschaftlichen Chancen verteilt werden. Sie haben ausreichend eigene und fremde Erfahrungen, um daran zu zweifeln, dass sich Erfolg einstellt, wenn man sich nur genug anstrengt. Genug hiesse angesichts des schlechten Startplatzes mehr zu tun als all jene, die mit Vorsprung in die Rallye der Chancenverteilung starten.
Strukturelle Lernbehinderungen
Einige der mannigfaltigen strukturellen Lernbehinderungen, von der Absenzenregelung bis zur Zimmerbestuhlung, sind im Text von Jürgmeier ausführlich beschrieben. Hier begnüge ich mich damit, auf deren Existenz hinzuweisen.
Diagnose-Förder-Karusselle
Das, was ich als Diagnose-Förder-Karussell bezeichne, ist ein ausgesprochen verbreitetes Phänomen, das an vielen Berufsfachschulen in Gang gesetzt wird, meistens zu Beginn einer Ausbildung, im Laufe des ersten Quartals. Landauf, landab werden Eintrittstests und Lernstandserhebungen durchgeführt. Mit unterschiedlichen Instrumenten, Marke Eigenbau oder eingekauft, werden Mathematik- und Sprachleistungen objektiv erhoben, mit Soll- und Durchschnittswerten verglichen, das Ganze manchmal gar auf dem Gebiet der Sozial- und Selbstkompetenzen. Solche Klassenscreenings finden in manchen Schulen oft flächendeckend statt. Sie zeigen in erster Linie Standardabweichungen Einzelner, machen zum Zeitpunkt X gemessene Rückstände in Bezug auf definierte Anforderungsstandards sichtbar, und im besten Fall geben sie einigen Lernenden auch Auskunft über ihre Reserven in Bezug auf die Minimalanforderungen.
Früherkennung ist ein häufig benützter Begriff für solche zum Standard gewordene Übungen, um allen Beteiligten die Notwendigkeit von Stütz- und Fördermassnahmen vor Augen zu führen, belegt mit Zahlen und Quoten. Der Zweck besteht darin, vom Besuch der nachgelagerten Angebote zu überzeugen (wen?), die unter ganz unterschiedlichen Titeln (Stützkurse, Förderkurse, Lernateliers …) angeboten werden und versprechen, die erkannten Defizite zu beheben. Nach den absolvierten zwanzig bis vierzig Lektionen entlässt das Karussell die Passagiere und wartet auf den Einsatz im Folgejahr. A prima vista scheint es sehr plausibel, Förderkursaufgebote an die Befunde von Diagnostikscreenings zu koppeln. Problematisch wird es dann, wenn solche Kernaussagen einschlägiger Publikationen isoliert rezipiert und verkürzt umgesetzt werden: «Die zentrale Frage für die Berufsbildenden an Berufsfachschulen in der Phase der Früherfassung lautet: Bringen die Lernenden die nötigen Voraussetzungen mit, um die schulischen Leistungsziele ... zu erreichen?» (Grassi et al., 2014, S. 47). Problematisch deshalb, weil es dazu führt, den Blick einseitig auf die Defizite zu richten, und in der Folge, analog zum Vorgehen der Schulmedizin, die vermeintlich probaten Gegenmittel verabreicht werden.
Diagnostik-Förder-Karusselle drehen alljährlich ihre Runden mit ungebrochenem Glauben ihrer Betreiber an die selbst zugeschriebene Wirkung. Bei dieser rituellen Mechanik ist kaum Platz für Fragen, dabei gäbe es ein paar ganz zentrale angesichts des betriebenen Aufwands, der notabene in den meisten Curricula weder inhaltlich noch mit der nötigen Zeitdotierung budgetiert ist:
•Ist die Wirkung der Förderprogramme nachgewiesen, wird sie auch mittel- und langfristig geprüft?
•Ist Lernmotivation durch Mahnfinger und Knüppel tatsächlich ein probates Mittel für Lernanstrengungen?
•Sind die Angebote optimal auf die erhobenen Mankos abgestimmt?
•Wie werden Erfolgserlebnisse sichergestellt, die anerkanntermassen wichtig sind für wirksame Lernprozesse?
•Weshalb werden nur Lernende mit ungenügenden Resultaten gefördert?
Wie berechtigt diese Fragen sind, zeigt das Resümee einer grossen Berufsfachschule, das sich auf eine mehrjährige Erfahrung bei den Elektroberufen stützt, einem der meistgewählten Berufsfelder industriell-gewerblicher Richtung. Es dürfte mit Sicherheit kein Sonderfall sein: Früherfasst wurden schulweit alle Lernenden im ersten Lehrjahr, dabei stellte man in rund 40 Prozent aller Fälle einen Förderbedarf fest, grossmehrheitlich in Mathematik. Rund 50 Lernende beziehungsweise 90 Prozent der «Förderbedürftigen» des betreffenden Berufs besuchten anschliessend Stützkurse aufgrund ihres Defizits. Erstaunlich dann das Resultat der Wirkungsmessung jeweils ein paar Wochen nach Stützkursende mit dem identischen Test wie in der Früherfassung: Es gibt keine oder nur sehr geringfügige Unterschiede im Vergleich zur Leistung beim Schuleintritt. Anzumerken ist, dass besagte Schule die Förderkurse auf vorbildliche Art durchführt: an zusätzlichen Schulhalbtagen, ergänzt mit nachgelagerten Kursblöcken samstagvormittags – besucht von rund 50 Prozent der Stützkursabsolvierenden (wegen noch unbefriedigender Lernerfolge). Zusätzlich laufen weitere Förderprogramme, wie die betreute Aufgabenhilfe von Montag bis Samstag. Nullwirkung schon kurze Zeit nach den Stützkursen! Dabei wird die eigentliche Wirkung, auf die solche Förderung implizit ausgerichtet ist, meines Wissens nirgends erfasst: Wie erfolgreich schliessen die Stützkursgeförderten ihre Ausbildung in den entsprechenden Fächern ab? Oder anders formuliert: Hat das Diagnose-Förder-Karussell seinen Anspruch, Defizite zu beheben, erfüllt, die Versprechen gegenüber den Lernenden eingelöst?
Diagnostikfalle
Die Köder in der Diagnostikfalle sind mit arithmetischer Genauigkeit nachgewiesene Defizite. Die Falle schnappt bei all jenen zu, denen ein wissenschaftlich errechnetes Ungenügen kein ausreichender Lernanreiz ist. Sei es, dass sie um ihre Defizite wissen und schon längst in