Der Hauch der Ewigkeit. Rosina-Fawzia Al-Rawi

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Der Hauch der Ewigkeit - Rosina-Fawzia Al-Rawi

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unserer menschlichen Existenz. Krankheit wird erst zu Leid, wenn wir mit ihr „Strafe” oder „Verbannung” verbinden; wenn wir glauben, dass wir „schlecht” waren und wir daher durch eine Krankheit, einen Unfall oder ein Problem gerichtet werden. Es ist dieser Schmerz, der meist viel tiefer und größer empfunden wird als die Krankheit selbst. Zu meinen, wir waren „ungenügend“, „mangelhaft“, „hässlich“ und damit „unwürdig“ für Gottes viele Segnungen, ist das tiefste Leid, das wir uns antun können. Zum Schmerz und zur Krankheit kommen Scham, Schuld und Kränkung.

      Sufis sehen in einer Krankheit einen der vielen Wege, die Allāh für uns wählt, um uns zu besseren, mitfühlenderen, integrierteren Menschen zu machen. Es ist das große Tor, das sich öffnet, damit der Akt der Transformation vom Ich zum wahren Selbst stattfinden kann. Krankheiten sind eine der vielen Möglichkeiten – und zwar nicht nur für uns, sondern auch für unsere Gemeinschaft, für unsere Familie – uns zu unserer Vollkommenheit, die allgegenwärtig in uns pulsiert, zu führen. Eine Sufi–Weisheit sagt: „Durch Krankheiten fallen unsere selbstgefälligen Sichten der Dinge wie Blätter im Herbst ab.“

      Sich den Finger zu verletzen ist schmerzhaft, doch zu glauben, dass es eine Strafe ist, dass Gott uns dadurch bestraft, das ist Leiden. So oft im Leben urteilen wir über uns und verurteilen uns selbst. Wir verurteilen unser Betragen, unsere Arbeit, unsere Vergangenheit und meist kommen wir zu dem Schluss, dass wir nicht gut genug sind, nicht genug können und dass das, was wir tun, nicht wirklich von Wert ist. Das Nafs liebt es, uns Dinge einzuflüstern: „Du bist nicht gut genug, das, was du erlebt bzw. erfahren hast, war nichts besonderes, das, was du gemacht hast, war wieder einmal mittelmäßig, nicht genügend!“ Im Urteilen und Verurteilen verschließen wir uns den Weg nicht nur der tieferen Erkenntnis unseres Selbst, sondern auch der Fähigkeit zu wachsen, aus jeder Situation wahrlich zu lernen und sie in den transformativen Prozess der Reifung zu integrieren. Das Nafs aber liebt es, im Selbstmitleid zu verharren und sich so das Glück, den Weg zur Erkenntnis zu verwehren.

      Sich zu verurteilen, zu richten ist „sündigen", wenn sündigen, sich „trennen" vom „Vollkommen werden“ bedeutet, denn dies verursacht Leid, bläht den Schleier des Selbstmitleids auf und trennt vom Weg zum Göttlichen Licht der Seele. Es ist aber auch ein Trennen vom Glauben an Allāhs Gnade, Ar–Raḥmān, und Güte, Ar–Raḥīm, es ist ein Trennen vom Glauben an Allāhs ewig vorhandene Vergebung, Al–Ġaffār, und an Allāhs Liebe, Al–Wadūd, und Seine allumfassende Fähigkeit, Al–Qādir, alles zu verwandeln und Allāhs Führung, Ar–Rašīd, in Seinem ewigen Plan. Denn Allāh schuf die Welt der Vielfalt, durch die sich die Einheit selbst betrachtet und Er hat alles für die Menschheit erschaffen und die Menschheit für Sich.

      Erkennen bzw. sich Wieder–Erinnern an die existentielle Einheit allen Seins ist so wichtig, weil sie im Heiligen wurzelt und zugleich die Methode zu ihrer Erlangung ist. Zu erkennen, dass die Dinge dieser Welt nicht als unabhängige Wirklichkeiten existieren, sondern ganz und gar vom Vorhandensein des verborgenen Urstoffes abhängig sind, dessen Herrlichkeit zu enthüllen, sie erschaffen sind, heißt, Glückseligkeit zu kosten. Die inneren und äußeren Sinne zu vereinen, bedeutet auch, das sichtbare Leben des Diesseits mit dem verborgenen Leben des Jenseits zu vereinen.

      „Lese!“ ist der erste Befehl im Koran. „Lese!“, bedeutet auch: kontempliere, erkenne, nehme dir Zeit, die äußeren Dinge nach innen zu nehmen und den äußeren Gang der Dinge mit dem inneren Lernen, mit dem inneren Auge des Herzens anzusehen, mit deinem ganzen Wesen, mit deinen Augen, deinen Ohren, deinem Herzen.

      Lese mit deinem ganzem Wesen in den Zeichen und Symbolen um dich herum, in den Reichen der Pflanzen, Tiere und Mineralien, in den Wolken der Himmel, in den Begegnungen und Bewegungen deines Lebens und nehme alles nach innen, dorthin, wo diese äußeren Ideen und Symbole zu deiner Wahrhaftigkeit führen.

      Sufismus basiert auf der Realität unseres Seins, dem stabilen und konstanten Zentrum unserer Existenz. Dieses Zentrum kann nicht ererbt werden. Jedes Wesen im Universum besitzt eine Quelle, ein Zentrum der Stabilität. Dieser Punkt befindet sich im Herzen des Menschen. Das ist auch der Grund, wieso das Herz einen so hohen Stellenwert im Sufismus, bei allen Propheten, einnimmt. Das Herz wird als das Tor zum Unsichtbaren, zum himmlischen Königreich betrachtet. Das Herz ist das Tor zum Königreich Gottes. Mit dem Herzen schauen bedeutet, das Universum als Ganzheit zu sehen. Das Herz kann alles vereinen. Sieht man mit dem Herzen, erkennt man die organische Einheit des Universums. Diese Einheit ist ALLĀH!

      „Sind sie denn niemals auf der Erde umhergereist, um ihr Herz Weisheit erlangen und ihre Ohren hören zu lassen. Doch wahrlich, es sind nicht ihre Augen, die blind geworden sind, sondern blind geworden sind ihre Herzen, die in ihren Brüsten sind!

      (22:46)

      Wesentlich beim Heilen sind die Zuversicht und die Absicht, die du im Herzen trägst. Zuversicht ausstrahlen, dass man helfen kann. Ist deine Absicht zu helfen und zu heilen stark genug und fokussiert, überträgt sie sich auf den begleitenden Menschen. Arbeite „für“ den Menschen, nicht nur „an“ ihr/ihm. Würdige die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der Situation oder des Zustandes, in der sich ein Mensch befindet, gleichzeitig verringere die Gefährlichkeit des Zustandes, denn den Menschen Vertrauen zu geben, ist schon die halbe Heilung.

      Im Grunde handelt es sich bei welch einer Krankheit auch immer um etwas, das vom eigenen System erschaffen wird, damit sich Gleichgewicht und Harmonie wieder einstellen können. Der eigene Organismus arbeitet von sich aus immer auf eine ganzheitliche Heilung zu. Der menschliche Organismus hat die Kapazität, sich selbst zu heilen. Die gegebene Unterstützung und Begleitung soll vor allem einen Raum der Liebe und des Vertrauens öffnen, in dem dieser Prozess stattfinden kann, gemeinsam mit einem heilenden Wissen, das natürlich notwendig ist.

      Jedes Mal, wenn du etwas tust, bei dem du zuvor deine Absicht deutlich formuliert hast, ziehst du die Energie der Einheit an. Alles im Leben hat einen Sinn, eine tiefere Bedeutung! Es gibt einen natürlichen Dialog von Licht zu Licht, den jede Heilerin kennt, wenn sie dem Körper ihres Patienten zuhört. Wenn das stets gesunde Sein eines Menschen mit dem Sein des Anderen kommuniziert, können sie gemeinsam den Körper und die Seele wieder neu ausrichten.

      Heilung ist immer eine spirituelle Angelegenheit. Die spirituelle Entwicklung ist der Zweck, der dann im eigenen Leben und in der Umwelt Ausdruck findet. Gesundheit bedeutet, sich in Harmonie mit der Welt zu befinden, zu erfahren, dass das Universum und all seine Geschöpfe aus einem „Urstoff” gemacht sind. Gesundheit bedeutet, hinauszuwachsen über das individuelle Bewusstsein, um die Schwingungen und Strömungen des Universums zu spüren. Diese universelle Wahrheit zeigt sich in allen Traditionen und zu allen Zeiten.

      Sie hat zwar im Äußeren das Antlitz der Vielfalt und Mannigfaltigkeit, doch dies ist eher eine Bestätigung der Universalität der Wahrheit, die ihre unendliche Schöpferkraft in unbegrenzten Möglichkeiten und Welten entfaltet. Und doch widerspiegeln sie alle die Eine Wahrheit.

      Für den Sufi ist es jedem Menschen möglich, wieder Anschluss an die Göttliche Ebene zu erlangen und heil, ganz zu werden. Jedes Wesen entsprechend ihrer/seiner Dimension. Wir Menschen sind komplexe Meisterwerke, Universen mit eigenen Gesetzen und Gesetzlichkeiten, einmalig in unserer Existenz. Der zur Heilung nötige Wiederanschluss wird bei den Sufis durch vielerlei Praktiken angestrebt: durch Gebete, durch Fasten, durch mystische Tänze, durch Musik, durch Körperarbeit, durch Atem und durch die Kraft der Göttlichen Namen, auf deren Bedeutung und Heilungsenergie in diesem Buch im Besonderen eingegangen wird.

      „(Oh Menschen), Ihr werdet euch von einer Stufe zur anderen bewegen!“

      (84:19)

      Und immer ist der Alltag, unser Leben, unser Übungsterrain, der Ort unserer Transformation. Doch ohne Bezug zur Höchsten allumfassenden Wahrheit hat unser Leben keine Grundlage, keine Bedeutung, keinen Sinn und keinen Glanz. Wir sind dann wie Treibholz den Strömungen ausgesetzt, ohne

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