Welche Bildung braucht die Wirtschaft?. Группа авторов

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Welche Bildung braucht die Wirtschaft? - Группа авторов

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ausscheren, die Probleme ließen sich, soweit sie überhaupt von Bedeutung seien, durch Anpassungen innerhalb des Systems lösen, etwa durch größere Module. Erstaunlich! Wieder und wieder hatte man uns gesagt, die Reformen seien ökonomisch unumgänglich. Aber als die Wirtschaftsvertreter diese These zurückwiesen, gab es auf einmal andere, jetzt politisch und administrativ zwingende Argumente. Offenbar sind die Reformen doch nicht in dem Sinn ökonomistisch motiviert, dass eine zusammenhängende Ideologie die Interessen der Wirtschaft verträte.

      Aber was ist dann das wirkliche Motiv? Was geht hier eigentlich vor? Welche Kräfte wirken hier? Welche Motivationen? Wie lassen sie sich so verstehen, dass ein schlüssiger Zusammenhang entsteht? Und wie sollen wir uns zu ihnen stellen? Diese Frage gebe ich den Leserinnen und Lesern mit. Am Ende des Buches schlage ich eine Antwort vor.

      Dabei ist eine Grenze anzuzeigen. Bildung und Wirtschaft sind in der Schweiz, in Deutschland und Österreich überaus eng verzahnt durch die berufliche Bildung. Die Pflege und das Ansehen von Lehre und Meisterbrief, zahlreiche kluge Weiterbildungsmöglichkeiten, Fachabitur und Fachhochschulen führen zu einer großen Zahl praxisnah ausgebildeter, hervorragender und motivierter Fachkräfte und damit zu tiefen Arbeitslosenquoten. Die berufliche Bildung bietet heute vergleichbare Aufstiegschancen wie Matur und Studium. Diese Zweifarbigkeit des Bildungswesens ist eine Erfolgsgeschichte, um welche die ganze Welt die deutschsprachigen Länder beneidet. Um berufliche Bildung geht es diesem Buch nur indirekt. Es fragt, welcher Art gebildete Menschen die Wirtschaft braucht – auf der Schiene von Matur und Studium. Hier haben die Reformen weitaus energischer angesetzt als in der beruflichen Bildung, und nur von dieser Schiene versteht der Herausgeber etwas.

      Dieser Band versammelt die von den Autorinnen und Autoren überarbeiteten Referate der Tagung. Patrik Schellenbauer (Avenir Suisse), die Nationalrätinnen Regula Rytz (Grüne) und Kathy Riklin (CVP) konnten ihre Beiträge aus zeitlichen Gründen nicht in schriftliche Form bringen. Dasselbe gilt für Thomas Sattelberger, Annette Winkler und Hans Ambühl; mit ihnen konnten wir stattdessen ein Interview führen. Die Beiträge der studentischen Autorinnen und Autoren sind unter dem Eindruck der Tagung im Nachhinein entstanden. – An der Tagung fiel den beiden bildungspolitisch Verantwortlichen, Hans Ambühl und Josef Widmer, eine zusammenführende Wertung zu. Damit sie diese auch für das Buch wahrnehmen konnten, stand ihnen bei der Abfassung ein Teil der Beiträge bereits zur Verfügung. Letzteres gilt auch für die studentischen Autorinnen und Autoren und für Carl Bossard.

      Wirtschaftliche Blicke

      Wie die Tagung setzt der Band mit wirtschaftlichen Beiträgen ein. In wünschenswerter Klarheit spricht Thomas Sattelberger das Unbehagen aus: »In der Wirtschaft wissen heute viele, dass Kreation angesagt ist, wir aber noch in Strukturen leben, die Effizienz optimieren. Das Zeitalter der industriellen Massenproduktion und der industrialisierten Bildung neigt sich dem Ende entgegen. Heute muss das Bildungswesen deutlich weniger Wissen reproduzieren und schnell viel mehr Räume für Kreation öffnen. Wir können es uns nicht leisten, für die teilweise Rückabwicklung der Bologna-Reform so lang zu brauchen wie für ihre Einführung … Wir brauchen keine apolitischen Absolventen, die nur auf Job und Sicherheit schauen, ohne den Kontext, in dem sie arbeiten, reflektieren zu können. Wir haben eine Generation von Anpassern produziert.« Wenn Sattelberger Recht hat, geht eine Bildungspolitik im Ansatz fehl, die PISA, Bologna und die verkürzte Matur bloß modifizieren, nicht im Grundsatz korrigieren will.

      Annette Winkler, die charismatische und erfolgreiche Chefin von smart, spricht über die (Un-)Fähigkeit zum Widerspruch in großen Hierarchien. Für eine Führungskraft sei es gar nicht so einfach zu erfahren, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirklich dächten. Auf deren Seite setze konstruktiver Widerspruch ein ganzes Bündel von Fähigkeiten voraus: mitzudenken, das große Ziel vor Augen zu haben und nicht nur den eigenen Silo. Überhaupt einen eigenen Standpunkt zu haben; und ihn so zu artikulieren, dass er nicht als Angriff erlebt werde.

      Nüchtern berichtet Michael Heim von Erfahrungen mit Bologna-Absolventinnen und -Absolventen in der unternehmerischen Praxis. Er kommt zu klaren Wertungen. Der Bachelor führe auch bei blendenden Noten nicht zu ausreichendem Methodenwissen, sodass kein selbstständiges ingenieurmäßiges Arbeiten möglich, der Betreuungsaufwand hoch sei. Die persönliche Reife – kritische Selbststeuerung, Umgang mit Hindernissen, reflektierte Wertebasis – scheine oft nicht ausreichend gegeben. Die Bewerber seien zu stark auf ihren persönlichen Aufstieg fokussiert. Neben dem Erwerb von Kompetenzen müsse darum die Entwicklung der Persönlichkeit treten. Sie erfordere Zeit, Vorbilder, soziale Interaktion und Konfrontation mit Diversität.

      Ulrich Looser nimmt aus Sicht von economiesuisse Stellung. Das Bildungssystem dürfe nicht auf kurzfristige Nachfrage des Arbeitsmarkts reagieren, sondern habe grundlegende Fähigkeiten mit auf den Weg zu geben, sodass die jungen Leute ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Unternehmen benötigten nicht genormte Arbeitskräfte, sondern vielseitige, kritisch denkende und kreative Persönlichkeiten. Um diese hervorzubringen, müsse das Bildungssystem vor allem die Neugier fördern.

      Studentische Blicke

      Um auch die Jugend zu Wort kommen zu lassen, versammelt der zweite Teil die Beiträge von sieben Studierenden, die unter dem Eindruck der Tagung auf ihr Studium schauen und seine Struktur bewerten. Sie kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Tobias Fissler (Mathematik) hat mit dem reformierten Studium ganz überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Die regelmäßigen Prüfungen unterstützten ihn in der Aneignung des Stoffs und milderten die Angst vor großen Prüfungsblöcken. Die Struktur habe das Wachsen seiner Freiheit unterstützt: Eine Grundsatzdebatte über Bologna sei nicht zielführend. Für Sandro Christensen (Medizin) erlaubt die Reform eine Spezialisierung des Studiums; diese bereite angemessen auf differenziertere gesellschaftliche Anforderungen vor. Das Medizinstudium sei seit jeher verschult: zu Recht, weil jeder Arzt ein großes objektives Wissen beherrschen müsse. Bildung sei wesentlich Selbstreflexion; das Studieren könne zu ihr führen, müsse es aber nicht. Selbstreflexion brauche Zeit und Distanz zum Alltag; ob Bologna diese in angemessener Weise zulasse, sei eine offene Frage. Mara Häusler (VWL) betont die persönliche Entwicklung, die Raum für Um- und Irrwege brauche. Eigenständige Köpfe, die gute Entscheidungen träfen, reiften in der Begegnung mit Vorbildern. Vor allem bräuchten sie Hilfen, das eigene Denken und Arbeiten als sinnvoll wahrzunehmen. Mit diesen Fragen habe Bologna wenig zu tun, da die Reform sich auf äußere Ziele des Studierens – Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz und Mobilität – beziehe.

      Mathematische, medizinische und ökonomische Fragen pflegen weniger existenziell zu sein. In diesen Fächern dominieren seit jeher umfangreiche Wissensprüfungen. Es ist nicht schlimm, wenn das Interessanteste erst in ein paar Semestern kommt. In der Geisteswissenschaft ist das anders. Der Raum ihres Fragens ist breiter und vor allem subjektiver bestimmt. Sie lebt von der Auseinandersetzung mit Werten, auch den eigenen, mit Fakten und ihrer Interpretation. Darum braucht es den ausdrücklichen Einbezug des Subjekts, um das Studium sinnvoll zu strukturieren. Kein Wunder also, dass sich, wie schon bei den Protesten 2009/10, überwiegend die Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften kritisch zu den Reformen stellen.

      Überforderung, Einsamkeit und Traurigkeit seien die wesentlichsten Erfahrungen seines Studiums gewesen. Sie hätten ihn, so Gabriel Zimmerer (Sozialanthropologie, Klassische Philologie), tiefer mit der Welt verbunden, Begegnung und tiefe Freude entstehen lassen. Der Wert dieses dreifachen Kontrollverlusts sei unter Bologna in Vergessenheit geraten. Die Bildung junger Menschen bedürfe des Loslassens, nicht der Bändigung oder Formung nach äußeren Vorgaben. Aus dem Beitrag Adriana Hofers (Germanistik, Anglistik) spricht eine leise Traurigkeit: weil die Anpassung an die Vorgaben des Systems das Lernen von den Nöten und Kraftquellen einer existenziellen Auseinandersetzung trenne. So, dass Bologna, trotz zahlreicher Wahlmöglichkeiten, entfremdend wirke. Studieren unter Bologna sei wie Radfahren mit Stützrädern. Es erfordere kaum Mut, Selbstvertrauen und Eigenverantwortung. Es sei nicht riskant, aber man komme auch nicht weit. In Adriana Hofer begegnet der Leser resp. die Leserin einer jungen Frau, die mehr möchte als nur Germanistik studieren – sie möchte Germanistin und Pädagogin werden.

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