Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
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Das Internet mit seinen verschiedenen Anwendungen wird auch in der politischen Kommunikation immer mehr genutzt. Laut WEMF11 nutzte bereits im Jahr 2007 ein Drittel der Schweizer Bevölkerung das Internet, um tagesaktuelle Nachrichten zu lesen. Im Frühling 2015 surften 83 % der Bevölkerung ab 14 Jahren mehrmals pro Woche im Netz; davon lasen rund drei Viertel Online-Nachrichten oder besuchten die Webseiten von Zeitungen (BFS 2016c:3). Während sich die Bürger zu Zeiten der Parteiblätter überwiegend durch lokal orientierte Medien informierten, kennt das Internet keine räumliche Begrenzung, was der Homogenisierung der politischen Öffentlichkeit Vorschub leistet. Die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung sind umstritten und wegen des anhaltenden Wandels des Untersuchungsgegenstandes auch schwierig einzuschätzen. Geser (1998) beispielsweise sah im Internet die Möglichkeit der Erweiterung der politischen Öffentlichkeit, indem sich ein Raum für «eine unbegrenzte Vielfalt divergierender politischer Identitätsansprüche, Utopien, Ideologien, Meinungen, Interessen, Forderungen und Alternativvorschläge» auftut. Die Euphorie hat sich mittlerweile etwas gelegt. Zwar gibt es heute Dutzende von Internet-Plattformen, die versuchen, auch politische «Gegenöffentlichkeit» herzustellen oder sich dem Mainstream des Agentur-Journalismus entgegenzustemmen.12 Auch gilt die Internet-Kampagne von 2009 durch ein kleines, überparteiliches Bürgerkomitee gegen die Einführung des biometrischen Passes als erstes «Internet-Referendum».13 Im Übrigen scheint aber die politische «Internet-Revolution» eher in Transitionsländern stattzufinden als in Demokratien westlicher Industrieländer. In der Schweiz begegnen Innovationen wie die E-Voting-Versuche und die seit den Wahlen 2003 bestehende Online-Wahlhilfeplattform «Smartvote»14 grossem Interesse. Besonders bei jungen Leuten scheint die Benutzung von smartvote durchaus einen Einfluss auf ihr anschliessendes Wahlverhalten zu haben (Ladner et al. 2012:373)
Welche künftige Medienstruktur sich angesichts der fortlaufenden Unternehmenskonzentration, der verstärkten Konkurrenz auf dem Medienmarkt und der Ausbreitung neuer elektronischer Medien abzeichnet, ist offen. Aber die Entkoppelung der Medien von den Parteien und ihre Ausrichtung am kommerziellen Interesse sind folgenreich für die politische Kommunikation (Blum 1995). Rickenbacher (1995:14) stellt eine Selektion und Eigenbearbeitung des Politischen fest, die sich «nicht nur an der Bedeutung des politischen Gegenstandes ausrichtet, sondern je länger, je mehr auch an den Informations- und Unterhaltungsinteressen der Leserinnen und Leser.» Blum (2009) stellt einen eigentümlichen Gegensatz fest: Medien unterstützen das schweizerische System kritiklos und ungefragt, während Politikerinnen und Politiker hart und respektlos kritisiert werden. Zwar hält Blum beide Funktionen für wichtig – die Medien als «Liebediener» wie als «Störenfriede». Aber er sieht wichtige Kritikpunkte: Politische Sachzusammenhänge und institutionelle Fragen bleiben unterbelichtet gegenüber der personellen Dramatisierung der politischen Auseinandersetzung.
3. Aktive politische Öffentlichkeit
Auch in der Demokratie gibt es populäre und unpopuläre Themen. Die Fragen der einstigen Behandlung der Fahrenden durch schweizerische Behörden, Gewalt in der Ehe, die Bewahrung der Greina-Hochebene vor der Überflutung durch ein Wasserkraftwerk oder die Behandlung psychisch Kranker in Anstalten haben eines gemeinsam: Sie wurden als «politische» Probleme mit Handlungsbedarf während langer Zeit nicht beachtet. Für politische Parteien oder Verbände ging es um zu kleine, unbedeutende Gruppen oder aber um ein allgemeines oder langfristiges Interesse, das nur die nächste Generation interessierte.
In solchen Situationen kommt der «aktiven Öffentlichkeit» eine bedeutende Rolle zu. Damit gemeint sind Einzelpersonen, manchmal auch Berufsgruppen, die ihr persönliches oder berufliches Prestige als Fürsprecher nicht organisierbarer und/oder nicht konfliktfähiger Themen einsetzen.15 Sie mobilisieren neue Tendenzen als «Gegenöffentlichkeit», bis das Problem in das Bewusstsein der öffentlichen Meinung dringt. Sie versuchen, ein Thema auf die politische Agenda zu bringen, und bieten ihre Kompetenzen zur Lösung des Problems an.
Zu typischen Beispielen berufsbezogener aktiver Öffentlichkeit gehören etwa der Architekt, der sich für die Erhaltung einer Betonfassade aus den 1950er-Jahren einsetzt, weil sein fachliches Auge darin bereits ein Denkmal klassisch-moderner Baukunst sieht; weiter das Engagement von Juristen für eine Strafrechtsreform oder die Öffentlichkeitsarbeit von Medizinern für die kontrollierte Heroinabgabe an therapiewillige Süchtige. Zur aktiven Öffentlichkeit gehört aber auch die Auseinandersetzung Kulturschaffender mit der Gesellschaft, dem Staat und der Politik. Insbesondere die Liste von Schriftstellern, die sich mit Grundfragen politischer Demokratie, mit öffentlicher Moral oder den Zuständen der Politik auseinandersetzen und damit zum Teil auch Spuren im politischen Bewusstsein hinterlassen haben, ist lang. Erwähnt seien hier etwa Gottfried Kellers Bettagsmandate im letzten Jahrhundert, Karl Spittelers Rede an die Nation zu Beginn des Ersten Weltkriegs, in jüngerer Zeit Karl Schmids «Unbehagen im Kleinstaat» (1963), Peter Bichsels «Des Schweizers Schweiz» (1969), Max Frischs «Willhelm Tell für die Schule» (1971) und «Schweiz ohne Armee» (1989), Niklaus Meienbergs «Der wissenschaftliche Spazierstock» (1985), Adolf Muschgs «Die Schweiz am Ende. Am Ende die Schweiz» (1990) und «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt» (1997), Friedrich Dürrenmatts letzte Rede «Das Gefängnis» (1990), Thomas Hürlimanns «Der grosse Kater» (1998) oder Peter von Matts «Die tintenblauen Eidgenossen» (2001).
1 Siehe zum Beispiel «Kinderstimmen gegen die ‹Herrschaft der Alten›», Tages-Anzeiger vom 19.6.2016.
2 Die erste umfassende soziologische Studie über die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Schweiz datiert von 1974 (Held/Levy 1974).
3 Von Roten (1991 [1958]). Zur Rezeption des Buches und zur Biografie der Autorin: Köchli (1992).
4 Diese Interpretation widerspricht nicht Banaszaks Studie (1991). Sie vergleicht neben dem Einfluss der Volksrechte auch die «verschiedenen Dimensionen politischer Beteiligungsstrukturen» und kommt zum Schluss, dass der schweizerischen Frauenstimmrechtsbewegung die Unterstützung anderer Bewegungen oder der Parteien fehlte. Den Grund sieht sie im schwachen und vielerorts sogar inexistenten Parteienwettbewerb.
5 Gemäss der jährlichen Klassifizierung der Interparlamentarischen Union (http://www.ipu.org/wmn-e/classif.htm) hatte Ruanda im Jahre 2016 mit 64 Prozent weltweit den höchsten Frauenanteil in der Volkskammer, gefolgt von Bolivien (53 %) und Kuba (49 %). Erstes europäisches Land ist Schweden, auf Platz 5 (44 %), die Schweiz belegt aktuell den 36. Rang (von 187) und befindet sich somit im oberen Fünftel der Liste.
6 Gabriel Almond (1963, 1980), der Mitbegründer der politischen Kulturforschung, definiert sein Konzept politischer Kultur