Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

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als bei den beiden Wahlen zuvor (Selb/Lachat 2004:24–25). Das stimmt überein mit Campbells These: Die Wahlen 2003 fanden nur wenige Monate nach zwei Volksabstimmungen über die Atomfrage statt, während 1995 und 1999 das Thema der Kernenergie nicht auf der politischen Traktandenliste stand. Die japanische Kernkraft-Katastrophe Fukushima im März 2011 dagegen scheint die Wählerinnen und Wähler bei den Parlamentswahlen des gleichen Jahres nicht besonders beeinflusst zu haben. Die Gründe dürften darin liegen, dass Bundesrat und Parlament schon vor den Wahlen erste Schritte für einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hatten und dass die Frage von den Parteien im Wahlkampf kaum thematisiert wurde. Umgekehrt nannten im Vorfeld der Wahlen 2015 44 % aller Wählerinnen die Migration als wichtigstes Problem – doppelt wo viele wie vor den vorherigen drei Wahlen und dreimal so viele wie bei anderen Themen (Lutz 2016:26).

      3. Nutzenüberlegungen: Nach der ökonomischen Theorie der Politik (Downs 1957) bilden Nutzenüberlegungen das zentrale Motiv politischen Verhaltens. Schloeth (1998:161 ff.) fand allerdings wenige Anhaltspunkte für einen direkten Einfluss wirtschaftlicher Nutzenmotive auf den Wahlentscheid. Wer sich beispielsweise 1995 von der Beschäftigungs-Unsicherheit bedroht fühlte, wählte nicht stärker die SP als andere Parteien. Es gibt auch kaum Hinweise dafür, dass Arme anders– z. B. häufiger für die SP – wählen als die übrige Wählerschaft (Farago 1998:255 ff.). Dem ökonomischen Theorieansatz der Politik entsprechen indessen die strategischen Überlegungen der Wählerschaft: Um ihre Stimme in der Ständeratswahl nicht zu verschenken, bevorzugen die Wählerinnen und Wähler die chancenreichsten Kandidaten und Parteien (Kriesi 1998), also meist jene der politischen Mitte.

      In der schweizerischen Wählerschaft schien es bis Mitte der 1990er-Jahre zwei Konstanten zu geben (Nabholz 1998:17 ff.). Erstens ging die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurück. Zweitens blieb die aggregierte Volatilität, als Mass für Veränderungen der Wähleranteile der einzelnen Parteien, lange tief. Beide Aussagen stimmen aber nur noch bedingt; die Wahlbeteiligung ist wieder leicht angestiegen oder konnte sich zumindest halten, und die Veränderung der Wähleranteile ist seit der Jahrtausendwende auf europäisches Niveau angestiegen. Ebenso hat der Anteil der Wechselwähler (individuelle Volatilität) in den Wahlen der letzten zwanzig Jahre stark zugenommen.

      Hinter diesem Wandel stand zunächst die Ökologiebewegung, die sich in den 1980er-Jahren parteimässig formierte und heute ein gutes Zehntel der Wählerschaft zu gewinnen vermag. Den stärksten Umbruch bewirkte die SVP, die seit Beginn der 1990er-Jahre ihren Wähleranteil von 12 auf annähernd 30 Prozent steigerte und damit zur wählerstärksten Partei aufstieg. Abspaltungen der Grünen wie der SVP wiederum liessen die Grünliberalen und die BDP aufs Parkett treten, von denen nach den Wahlen 2011 die Formation einer «Neuen Mitte» mit dem Koalitionspartner CVP erwartet wurde. Diese scheiterte, und die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf verzichtete 2015 auf eine Wiederwahl.

      Diese grossen Umwälzungen im schweizerischen Parteiensystem werden im nächsten Kapitel diskutiert. Hier sei aber auf den gesellschaftlichen Wandel hingewiesen, der hinter den Veränderungen des Parteiensystems steht: Von den klassischen vier gesellschaftlichen Spaltungen (Cleavages), wie sie Lipset und Rokkan (1967) als Erscheinung in allen europäischen Ländern vorfanden, sind deren zwei relativ unbedeutend geworden: Der Graben zwischen Katholiken und Protestanten, der einst Kirchentreue und Laizismus trennte, hat sich eingeebnet; der Milieukatholizismus hat sich aufgelöst. Konflikte zwischen den Sprachgruppen, die in anderen Ländern wie Belgien oder Kanada eine wachsende Rolle spielen, zeigen sich zwar gelegentlich an Abstimmungssonntagen als «Röstigraben», werden aber von den politischen Parteien sehr selten ausgespielt. Das gilt allerdings nicht für die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Stadt und Land. Diese werden von SP bzw. SVP als Konfliktlagen stark thematisiert und zur Mobilisierung benutzt, und auch in der Stimmbürgerschaft nehmen die politische Spaltung zwischen Kapital und Arbeit sowie der Stadt-Land-Gegensatz zu. Zudem werden zwei neue gesellschaftspolitische Spaltungen sichtbar. Die erste bildet sich am Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie und hat sich in der Schweiz ähnlich wie in den meisten westlichen Industriestaaten entwickelt. Die zweite Konfliktlinie bildete sich am Thema aussenpolitischer Öffnung oder Schliessung. Diese steht im generellen Zusammenhang mit der Globalisierung, hat aber für die Schweiz wegen der seit 1992 offenen Frage der EU-Integration eine andauernde Virulenz entwickelt. Diese beiden neuen Spaltungen verlaufen teils quer zu den historischen Cleavages und sind weniger als die Letzteren an bestimmte soziale Schichten gebunden. Die Konfliktpotenziale in der schweizerischen Gesellschaft sind grösser geworden, gleichzeitig aber auch unübersichtlicher.

      1. Begriff und Funktionen: Milizsystem ist die nur in der Schweiz übliche Bezeichnung für die freiwillige, nebenberufliche und ehrenamtliche Übernahme von öffentlichen Aufgaben und Ämtern. Zumeist nicht oder nur teilweise entschädigt, gehört Miliztätigkeit zum weiteren Bereich von Arbeit, die nicht auf Erwerbsziele gerichtet ist. Auf sozial oder öffentlich motivierter Nichterwerbsarbeit beruhen zahllose kulturelle, soziale oder sonstwie gemeinnützige Organisationen.10 Freiwilligenarbeit in diesem erweiterten Sinn ist ein Merkmal jeder Zivilgesellschaft. Sie hat aber in der Schweiz im politischen Bereich eine besondere Bedeutung, da auch sehr viele öffentliche Funktionen und Aufgaben milizmässig erbracht werden. Als wichtiges Beispiel sei hier die gesellschaftliche Integration ausländischer Jugendlicher genannt, für welche die Sportvereine einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten (Lamprecht et al. 2011).

      Das Milizsystem hat historische Wurzeln, die weit zurückreichen. Zu diesen gehört etwa das bereits erwähnte «Gemeinwerk», zu dem in Gemeinden des Kantons Wallis alle erwachsenen Männer für die Errichtung und den Unterhalt der Suonen (Wasserkanäle aus den Hochtälern) periodisch herangezogen wurden (Niederer 1956). Das Milizsystem erfüllt aber auch eine wichtige Funktion in der heutigen schweizerischen Demokratie: Bürgerinnen und Bürger stellen Fähigkeiten aus ihrem Zivilleben und einen Teil ihrer Zeit zur Erfüllung öffentlicher Funktionen und Aufgaben zur Verfügung. Damit wird es überhaupt erst möglich, sich in einem Kleinstaat neben den Bundes- und 26 kantonalen Behörden auch noch rund 2300 Gemeinden als feingliedrig strukturiertes Politiksystem zu leisten (Müller 2015a). Nach Geser et al. (1987) erweitert so die Kleingesellschaft ihre beschränkten Fähigkeiten zur Arbeitsteilung und Differenzierung sowie die begrenzten Ressourcen für eine professionelle Aufgabenerfüllung.

      Eine dritte, demokratietheoretische Funktion kommt hinzu: Das Milizsystem erweitert die Zahl der Aufgaben und Rollen, in denen Bürgerinnen und Bürger, entweder gewählt oder ernannt, über Wahlen und Abstimmungen hinaus zu einer qualifizierten politischen Partizipation gelangen. Das Milizsystem ermöglicht also nicht nur eine politische Kultur der «Selbstverwaltung» (Bäumlin 1961), sondern eröffnet vielen Personen die Möglichkeit erweiterter demokratischer Teilnahme. So führt das Milizsystem auch zu anderen Zugängen und einer besonderen Form der Qualifizierung nebenberuflicher politischer Eliten. Nach gängiger Vorstellung verhindert das Milizsystem die Herausbildung einer besonderen politischen Kaste. Zwei Einwände sind zu machen: Der erste betrifft die soziale Selektivität des Milizsystems (siehe unten, Punkt 4). Zweitens finden sich auch immer wieder Gegenbeispiele starker Kooptation in öffentlichen Ämtern, deren Besetzung nicht durch allgemeine Wahlen, sondern durch Ernennung der Behörden erfolgt.

      2. Verbreitung: Das Milizsystem ist auf allen Ebenen verbreitet. Zu milizmässig erbrachten politischen Mandaten, Ämtern und Aufgaben gehören:

      – Alle Parlamentsmandate auf Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinden,

      – Ein erheblicher Teil der Exekutivämter auf Gemeindeebene, vor allem bei den kleineren Gemeinden,

      – Ein Teil der Richterämter auf Stufe der Bezirke und Kantone,

      – Kommissionen und Gremien der Spezialverwaltung auf Ebene der Gemeinden (z. B. für

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