Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
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Tabelle 3.3: Politische Einstellung, Werthaltungen und politische Kultur: Vergleichsdaten aus der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Schweden (in Prozent)
Schweiz | Deutschland | Frankreich | Schweden | |
Allgemeine Einstellung | ||||
ziemlich/sehr an Politik interessiert | 61 | 67 | 45 | 68 |
Zufriedenheit mit Demokratie | 84 | 58 | 32 | 75 |
Viel Vertrauen in Parlament | 66 | 45 | 26 | 66 |
Viel Vertrauen in politische Parteien | 43 | 23 | 9 | 44 |
Viel Vertrauen in PolitikerInnen | 48 | 24 | 9 | 43 |
Viel Vertrauen in Gerichtssystem | 72 | 58 | 48 | 69 |
Viel Vertrauen in die Polizei | 82 | 75 | 65 | 77 |
Viel Vertrauen in die UNO | 48 | 37 | 44 | 68 |
Parteiverbundenheit, Wertorientierungen und politische Ideologie | ||||
ParteisympathisantInnen | 56 | 58 | 53 | 77 |
Wertorientierung Links (0–3) | 20 | 29 | 25 | 28 |
Wertorientierung Mitte (4-6) | 57 | 59 | 48 | 41 |
Wertorientierung Rechts (7–10) | 24 | 12 | 27 | 31 |
Regierung sollte Einkommensunterschiede reduzieren | 59 | 73 | 70 | 67 |
Wegen der Zuwanderer lässt es sich schlechter leben | 15 | 20 | 23 | 7 |
Quellen: Ehrler et al. 2016, ESS 2014, eigene Berechnungen
Allerdings kann man in der Schweiz nicht von einer homogenen politischen Kultur sprechen. Die Sprachräume spielen eine wichtige Rolle. Anhand des Abstimmungsverhaltens in den Fragen des Umweltschutzes, der Öffnung der Schweiz sowie zur Wirtschafts- und Sozialpolitik lassen sich drei unterschiedliche Profile bilden, die man als jeweils eigenständige politische Kultur der Landesteile bezeichnen kann. Auf die Deutschschweiz passen am besten die Attribute wirtschafts- und sozialpolitisch rechts, umweltfreundlich und konservativ-geschlossen. Die italienische Schweiz steht für linke, umweltfreundliche und eher konservativ-geschlossene Anschauungen, die Romandie wiederum stimmt links, zieht individuelle Freiheiten dem Umweltschutz vor und will eine offene Schweiz (Linder et al. 2008:41ff.).
Umfragen deuten in den meisten OECD-Staaten auf ein längerfristig sinkendes Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente. Während die Ansprüche an den Staat steigen, sinkt die Bereitschaft zur politischen Teilnahme. Es wäre indessen verfehlt, solche Trends zu Systemkrisen hochzustilisieren. Zwar sprach man auch in der Schweiz in den sechziger Jahren von der «Vermassungskrise» der Demokratie, nach 1968 von den Legitimations- und Regierbarkeitskrisen des Staats, zehn Jahre später von der Parteienkrise und der Revolution durch soziale Bewegungen und Postmoderne. In den 1990er-Jahren machte die «Krise des Nationalstaats» in der Globalisierungsdebatte Furore. Die seit 2008 noch unbewältigte internationale Finanzkrise schliesslich ist von der dreifachen Frage beherrscht, erstens, wie weit Staaten (und damit die Steuerzahler) für den hinterlassenen Schuldenberg aufkommen müssen, zweitens, ob sie den globalen Finanzkapitalismus in vernünftige Bahnen zu lenken imstande sind und drittens, ob in diesen Bemühungen Demokratie überhaupt noch eine Rolle zu spielen vermag.
2. Politische Teilnahme
Im Gegensatz zum hohen Vertrauen, das die schweizerische Demokratie geniesst, sind Teilnahmebereitschaft und effektive Teilnahme ihrer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an den Wahlen gering. Wie folgende Grafik zeigt, nimmt heute weniger als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger an eidgenössischen Wahlen teil. Lange war der Trend der Wahlbeteiligung sinkend – und zwar seit der Einführung des Proporzwahlrechts. Seit Ende der 1990er-Jahre hat sich die Entwicklung jedoch stabilisiert.
Grafik 3.1: Beteiligung an eidgenössischen Volksabstimmungen und Nationalratswahlen, 1919–2015 (in Prozent)
Quelle: BFS (2016a), eigene Berechnungen. Für die Volksabstimmungen wurden Durchschnittswerte über drei (bis 1930) bzw. vier (ab 1931) Kalenderjahre berechnet, zum Beispiel 2011 bis 2015. Letze Periode bis und mit September 2016.
Das Sinken der Wahlbeteiligung ist keine schweizerische Besonderheit; sie hat in den letzten 40 Jahren in geringerem Ausmass auch in anderen Ländern stattgefunden, z. B. in Finnland, den Niederlanden oder den USA. Die Forschung nennt dafür vor allem gesellschaftliche Gründe: Im Zuge des Wertewandels und der Individualisierung löst sich die einzelne Person aus gesellschaftlichen Bindungen. Politische Teilnahme ist vor allem bei den Jüngeren kaum mehr eingebettet in frühere Formen einer Vereinskultur oder des Kirchenbesuchs. Im Übrigen kann die Mitgliedschaft in Vereinen die Bereitschaft zu politischem Engagement sowohl fördern wie auch hemmen. Beide Effekte sind jedoch schwach; insofern können zivilgesellschaftliche Organisationen nur beschränkt als «Schule der Demokratie» angesehen werden (von Erlach 2006). Die Bindungen an eine politische Partei lockern sich. Teilnahme an Wahlen wird nicht mehr als staatsbürgerliche Pflicht aufgefasst, sondern als Option, ein Recht, das man ausüben kann oder nicht. Die «Selects»-Untersuchungen zu den eidgenössischen Wahlen zeigen, dass vor allem noch jene zur Urne gehen, die sich über ein ausgeprägtes politisches Interesse, über grössere politische Kenntnisse und die Identifikation mit einer politischen Partei ausweisen können. Neben diesen politisch-psychologische Faktoren ist auch die Schichtzugehörigkeit von Bedeutung: Unterschichtsangehörige wählen seltener.
Erklärungsbedürftig bleibt aber der beträchtliche Niveauunterschied: Warum liegt die Wahlbeteiligung in der Schweiz heute knapp 20 Prozentpunkte tiefer als im OECD-Durchschnitt, wie Grafik 3.2 zeigt? Dafür werden vor allem institutionelle Gründe angeführt.8 Schweizerische Wahlen sind weniger bedeutsam als Wahlen in einer parlamentarischen Demokratie: Es findet kein Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition statt; der Parteienwettbewerb ist begrenzt. Wahlen sind auch entlastet von vielen politischen Konflikten um Sachfragen, die bei anderer Gelegenheit an Volksabstimmungen direkt entschieden werden. Schweizerische Parlamentswahlen sind darum sog. «low salience»-Wahlen, für die eine geringere Beteiligung zu erwarten ist, weil es um weniger geht (Klöti/Linder 1998:304). Derselbe Effekt lässt sich an den Wahlen ins Europäische Parlament feststellen, die, weil weniger bedeutsam für die Wählerschaft, eine erheblich geringere Beteiligung auszulösen vermögen als Landeswahlen in den einzelnen Staaten der EU. Weitere Plausibilität erhält die «low-salience»-These vor dem Hintergrund der Arbeiten des holländischen Wahlforschers Oppenhuis (1995:69 ff.). Dieser findet für die europäischen Parlamentswahlen ähnliche politisch-psychologische Faktoren der Teilnahmebereitschaft